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  • Politik
  • Werner Großmann, letzter Chef der DDR-Aufklärung, an Wolfgang Schäuble zum ND-Interview:

Verbrechen gehörten nicht zu unseren Szenarien

Sehr geehrter Herr Dr. Schäuble,

  • Lesedauer: 3 Min.

wie sicher viele Leser der Zeitung „Neues Deutschland“ habe auch ich Ihr Interview, veröffentlicht am 1. Oktober 1993, mit Aufmerksamkeit gelesen.

Sie werden verstehen, daß ich mich als langjähriger Mitarbeiter und zuletzt Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR besonders für Ihre Ausführungen zu unserer Tätigkeit interessiert habe.

Volle Zustimmung gebührt Ihrer Auffassung, daß die „gegeneinander gerichtete Aufklärungstätigkeit im vereinten Deutschland strafrechtlich nicht zu verfolgen“ ist. Daß das Gegenteil derzeitig der Fall ist, muß wohl nicht erst besonders hervorgehoben werden.

In einer Frage erlaube ich mir, Ihnen entschieden zu widersprechen. Es ist einfach unwahr, daß es in unserer Tätigkeit „Entführungen, Anschläge und Morde“ gegeben hat. Ich

weiß nicht, Herr Dr. Schäuble, wer Ihnen solche Erkenntnisse vermittelt. Ich kann Ihnen versichern, daß mir in meiner Tätigkeit von 1952 bis 1990 solch schwerwiegende strafbaren Handlungen nicht bekannt geworden sind. Verbrechen waren uns in der Durchsetzung unserer nachrichtendienstlichen Ziele fremd. Sie gehörten weder zu theoretischen Szenarien noch zum praktischen Instrumentarium.

Zur Bekräftigung dessen darf ich Sie auf folgendes aufmerksam machen.

In dem Beschluß des 1. Strafsenats des Kammergerichts in Berlin vom 22. Juli 1991 in der Strafsache gegen mich und vier weitere ehemalige leitende Mitarbeiter der HVA wegen Verdachts des Landesverrats und der geheimdienstlichen Agententätigkeit und die damit verbundene Anrufung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe heißt es u. a.. „...haben die Angeschuldigten nach dem Ergebnis der Ermittlungen keine Tätigkeit entfaltet, die sich von denen anderer Geheimdienste unterscheiden.“ An anderer Stelle: „Daß die Angeschul-

digten als Angehörige des Mf S in Bereiche eingebunden gewesen wären, in denen es zu Menschenrechtsverletzungen oder zu ähnlichen schwerwiegenden strafbaren Handlungen gekommen ist, ...haben die Ermittlungen nicht ergeben.“

In dem Beschluß des 1. Strafsenats des Kammergerichts in Berlin vom 27. August 1993 in der Strafsache gegen Günter Kratsch u. a. wird das meines Wissens erneut bekräftigt. Auch in den bisher durchgeführten Strafverfahren gegen Mitarbeiter der HVA und ihre Agenten hat es keinerlei Erkenntnisse dieser Art gegeben.

Ich bin überzeugt, daß man auch künftig uns solcher Verbrechen nicht überführen kann, es gab sie nämlich nicht.

Ich bitte Sie, Herr Dr. Schäuble, Ihre Einschätzung der Tätigkeit der HVA, auch im Vergleich zum BND, zu überprüfen. Zu einem weiteren Punkt in Ihrem Interview. Völlig zu Recht würdigen Sie den friedlichen und-unblutigen Verlauf zur Wiedervereinigung und die dafür besondere Verantwortung tragenden Persönlichkeiten. Ist es nicht an der Zeit,

auch einmal daran zu erinnern, daß auch wir bewaffnet waren, daß weder ein Befehl zur Anwendung der Schußwaffe gegeben noch Unkontrollierbare Handlungen einzelner erfolgten? Haben wir nicht auch Anteil am Verhindern von Blutvergießen?

Ich würde es überhaupt nicht so hervorheben wollen, wenn nicht andererseits wir von verschiedensten Seiten dauernd schlimmster Greueltaten beschuldigt würden. Für uns war eine solche Haltung Selbstverständlichkeit, und sie wurde von allen Beteiligten mit großer Disziplin bewahrt.

Ich verwahre mich entschieden gegen jede Anschuldigung anderer Art gegenüber ehemaligen hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern der Hauptverwaltung Aufklärung. Ich bitte Sie auch dies bei der Bewertung der HVA zu berücksichtigen.

Ich werde eine Abschrift dieses Briefes der Redaktion „Neues Deutschland“ übermitteln.

Hochachtungsvoll

WERNER GROßMANN, 13059 Berlin

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