Offenes Experiment

Kultureller und gesellschaftlicher Wandel im »Labor Ostdeutschland«

  • Lesedauer: 6 Min.
»Kulturelle Aspekte der deutschen Einigung« sind ein Programmschwerpunkt der Kulturstiftung des Bundes. Um einen Überblick über die Situation von Kunst und Kultur in den neuen Bundesländern zu gewinnen, gab die Stiftung eine Studie zu Situation und Perspektiven dort ansässiger Kulturinstitutionen in Auftrag. Die so entstandene Publikation »Labor Ostdeutschland« enthält über 40 Texte verschiedener Autoren, die spezifische gesellschaftliche Probleme und ihre kulturellen Dimensionen beleuchten. Die 1972 in Dresden geborene Kunst- und Kulturwissenschaftlerin Kristina Bauer-Volke ist neben der Ethnologin Ina Dietsch Herausgeberin des Berichts. Mit ihr sprach Martin Hatzius.
ND: »Labor Ostdeutschland«! Der Titel provoziert. Ein Labor ist ein künstlich geschaffener Raum für Experimente. Ostdeutsche als Versuchskaninchen?
Bauer-Volke: Uns ging es nicht um die Versuchspersonen - das wäre problematisch -, sondern um die mit dem Labor verbundene Assoziation des ungewissen Ausgangs. Die provozierende und vielschichtige Metapher des »Labors« kann auf Ostdeutschland angewendet werden, wenn man sie als Umschreibung einer gesellschaftlichen Situation versteht, in der der Fortgang der Entwicklungen offen bleibt. Dabei darf man allerdings nicht vergessen, dass die in Ostdeutschland eingetretene Laborsituation eine unfreiwillige ist.

Wie ist diese Situation entstanden?
Modelle und Strukturen, mit denen man in den vergangenen Jahren versuchte, Ostdeutschland »aufzubauen«, greifen nicht - eine Einsicht, die sich in letzter Zeit immer stärker durchsetzt. Wir wissen nicht, ob das einmal gesteckte Ziel der Angleichung an westdeutsche Verhältnisse je erreicht wird. Die Deindustrialisierung vieler Regionen, wachsende Arbeitslosigkeit, das Schrumpfen von Städten und massenweise Abwanderung sind Entwicklungen, mit denen man zumindest in diesem Ausmaß nicht rechnete. Anders als erwartet, entwickelte Ostdeutschland eine Eigendynamik - eigene Strategienund Ansätze, mit den Problemlagen umzugehen. Auch und gerade im kulturellen Bereich, wie man an Beispielen wie dem Brandenburger Kulturland-Konzept oder den Uckermärkischen Bühnen in Schwedt sehen kann.

Welcher Ansatz liegt Ihrer Dokumentation solcher Konzepte zu Grunde?
Unser Anliegen war es, Kultur und Gesellschaft miteinander zu verbinden und danach zu fragen, wie beide Sphären in Zusammenhang stehen. Vor allem die sozialen, urbanen und wirtschaftlichen Problemfelder, mit denen Ostdeutschland umzugehen hat, sollten unbedingt berücksichtigt werden. Es ging uns darum, Argumente für Kultur zu finden und zu zeigen, dass sie weit mehr ist, als ein Kostenfaktor oder ein »Luxusgut«, das man bezahlen können muss. Die öffentlichen Debatten um Kulturkonzentrieren sich mehr und mehr auf den Erhalt einer »kulturellen Substanz«, deren Verlust man fürchtet, weil die Haushaltslage der ostdeutschen Länder und Kommunen sich auch auf lange Sicht eher verschlechtert als verbessert. Dabei überlagern Kostenargumente immer stärker die inhaltlichen Debatten darüber, wofür wir Kultur eigentlich brauchen. Auf die Frage, was Künstler mit ihren Projekten und Institutionen in den extrem angespannten Situationen in Ostdeutschland leisten, bekommt man völlig andere Antworten, als wenn man nur danach fragt, wie teuer Theater sind, was uns ein Opernhaus kostet oder ob man die freie Szene nicht dem Markt überlassen kann.

Was leistet denn Kultur im gesellschaftlichen Transformationsprozess?
Wir haben festgestellt, dass sie sehr vielfältige Rollen und Funktionen übernehmen kann - weshalb wir auch von den »kulturellen Dimensionen des gesellschaftlichen Wandels« sprechen. Zum einen setzen Künstler und Kulturinstitutionen gesellschaftliche Diskurse in Gang und begründen soziale Netzwerke. Sie erregen Aufmerksamkeit für Orte und Regionen, die normalerweise von der Landkarte fallen würden, sie stiften Gemeinschaft und Identität. Auf der anderen Seite können Kunst und Kultur über sinnliche Erfahrung, über das Aufgreifen sozialer, politischer und philosophischer Themen und über die oft gegen den Strich gebürstete Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Problemlagen die so dringend benötigten öffentlichenGesprächsräume schaffen. Zum Beispiel, indem sie das Thema Arbeit aufgreifen, das in Ostdeutschland besonders wichtig ist, weil Arbeit als Identifikationsfaktor für Massen von Menschen weggebrochen ist. Oder indem sie sich mit Identität, Zukunft und Vergangenheit oder dem Schrumpfen der Städte auseinander setzen. All dies zeigen die Beispiele in unserer Publikation.

Welche Rolle kann Kultur in schrumpfenden Städten spielen?
Darauf geben unsere Autoren deutliche Antworten. Ein Plädoyer von Wolfgang Kil ist zum Beispiel, dass Kultur und Kunst dazu genutzt werden sollten, die Prozesse von Abbau und Schrumpfung zu begleiten. Im Moment ist der Umbau leer gezogener Städte ein rein technokratischer Akt, der mit den Menschen, die in den Städten wohnen, mit ihrem Lebensgefühl und ihren Perspektiven vor Ort wenig zu tun hat. Kil beschreibt in seinem Beitrag, wie groß die kulturellen Auswirkungen dieser Schrumpfungsprozesse sind und fordert einen kulturellen Umgang damit. Jan Turowski, Autor im selben Kapitel, greift einen ganz anderen Aspekt auf, indem er die durch Leerstand entstehenden Freiräume für Künstler beschreibt. Er weist darauf hin, dass leer gezogene Häuser Produktionsstätten für Künstler sein können und sich hier neue Kunstszenen etablieren, die nicht nur neue künstlerische Wege und Konzepte erproben, sondern im Kontakt mit der »dagebliebenen« Bevölkerung neue Gesprächsräume schaffen oder den Orten eine neue Identität geben. Beide Autoren zeigen jedoch auch, dass die von ihnen geforderten Konzepte ein Umdenken in der Politik und den Mut aller Akteure erfordern, denn es handelt sich um Modelle, die veränderte Rahmenbedingungen benötigen.

Kann Kultur auch Leerräume füllen, die durch den Verlust von Erwerbsarbeit entstehen?
Unsere Erfahrung ist, dass Deindustrialisierung und der Verlust von Arbeitsplätzen meist auch zum Abbau von Kultur führen. Es gibt da einen ganz einfachen Zusammenhang: Weniger Arbeit bedeutet weniger Steuergelder für die Kommunen, die für die Kultur ausgeben werden können. Außerdem haben viele arbeitslose Menschen weder Geld noch Lust, Kultur zu genießen. Es ist ja nicht immer eine monetäre Frage, sondern ganz oft auch eine atmosphärische. Ist man überhaupt noch offen dafür, ins Theater zu gehen, wenn man nicht weiß, wie man seine Miete bezahlen soll?
Wir haben aber auch herausgefunden, dass das Potenzial, das Kultur entwickelt, stark davon abhängt, als was sich die Künstler vor Ort verstehen, und welche Konzepte von der Kulturpolitik unterstützt werden. Gerade in stark von Arbeitslosigkeit betroffenen Regionen wie Brandenburg sieht man, welch enorm wichtige Rolle Kultur spielen kann. Und zwar nicht nur, weil sie ein Dienstleistungssektor ist und sich auch dort Arbeitsplätze ansiedeln lassen, sondern weil sie strukturell an Leerstellen treten kann, die durch den gesellschaftlichen Transformationsprozess entstehen. Die Identität von Regionen und Städten wird immer stärker durch Kultur bestimmt. Das hat auch damit zu tun, dass es in vielen ostdeutschen Orten kaum andere Identifikationsmöglichkeiten gibt. Es sind keine Industriestandorte, keine High-Tech-Dienstleistungsstandorte, sondern im besten Falle Kulturregionen, die für Gesamtdeutschland, Europa, sogar für die Welt interessant sein können, weil Kultur hier als Potenzial in vielerlei Hinsicht begriffen wird.

Könnten ostdeutsche Kulturkonzepte langfristig sogar Vorbildwirkung für den Westen entwickeln?
In Köln oder München wird erst seit kurzem grundsätzlich über die Schließung von Theatern, die Fusion von Orchestern oder die Reduzierung von Mitteln für die freie Szene nachgedacht. Ostdeutsche Länder und Kommunen gehen seit vielen Jahren mit dem Problem der permanenten Unterfinanzierung um. Insofern liegt es nahe, genauer nach Ostdeutschland zu schauen und zu fragen, ob man von den praktizierten Konzepten lernen kann. In den neuen Ländern führte die seit vielen Jahren wachsende Notlage bei der Finanzierung sowohl des kulturellen Erbes als auch zeitgenössischer Kunstproduktion dazu, dass man länger und radikaler nach alternativen Wegen und Konzepten suchen musste, Kunst und Kultur zu erhalten und zu ermöglichen. Mit den Beispielen in unserer Publikation - etwa dem Brandenburger Kulturland-Konzept im Großen oder den Uckermärkischen Bühnen Schwedt als kulturelles und soziales Zentrum im Kleinen - zeigen wir, dass die Umsetzung solcher Konzepte bei weitem nicht so erfolglos ist, wie man denken könnte.

Kristina Bauer-Volke, Ina Dietzsch (Hrsg.): Labor Ostdeutschland. Kulturelle Praxis im gesellschaftlichen Wandel. Ein Projekt der Kulturstiftung des Bundes.
Der Band (368S., brosch.) kann kostenfrei bestellt werden: info@kulturstifung-bund.de oder Tel.: 0345/2997124
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