Vor 100Jahren legte ein Ausstand die Crimmitschauer Textilbetriebe fünf Monate lahm. Jetzt erinnert eine Ausstellung an den Arbeiterprotest. Vergleiche zu heutigen Streiks sind umstritten.
Still ist es in den Maschinensälen der früheren Tuchfabrik Gebrüder Pfau. Auf den Zwirnmaschinen in der lang gestreckten Halle reihen sich Hunderte Spulen. Doch ihr schnurrendes Drehen, das an Werktagen zu ohrenbetäubendem Tosen anschwoll, ist erstorben. Auch die schweren Schiffchen in den Webstühlen, die einst laut knallend hin- und herschossen, stehen bewegungslos. Und die kärglichen Pausentische in den zugigen Ecken sind leer: Kein Arbeiter, nirgends.
Selten hat die Stille in den Räumen des Westsächsischen Industriemuseums Crimmitschau, das in der von den Gebrüdern Pfau 1899 erbauten Fabrik eingerichtet wurde, besser zu einer Ausstellung gepasst. In Vitrinen und auf Schautafeln zwischen den Maschinen wird derzeit an einen Streik erinnert, der vor 100 Jahren eine der wichtigsten sächsischen Textilstädte komplett lahm legte. Nicht nur bei Pfaus drehte sich keine Spindel mehr. In 26 Spinnereien, 52 Webereien und vier Färbereien des Ortes ruhte die Arbeit. Über 8000 Beschäftigte waren im Ausstand. Und sie bewiesen Stehvermögen: Als die Arbeit am 18. Januar 1904 wieder aufgenommen wurde, hatte der Streik fast fünf Monate gedauert.
Der Crimmitschauer Textilarbeiterstreik, mit dem der Zehn-Stunden-Arbeitstag durchgesetzt werden sollte, war »einer der längsten und härtesten Arbeitskämpfe seiner Zeit«, sagt Andrea Bergler. Als Museumsleiterin gehört sie zu den Autorinnen der Ausstellung. Deren Blickfang sind große Fotografien, auf denen sich Belegschaften nach dem Ende des Streiks zeigen. Ihr Ziel hatten die Frauen und Männer verfehlt: Noch mehrere Jahre mussten sie täglich elf Stunden schuften. Doch die Bilder sind keine Dokumente einer Niederlage. Die Menschen posieren erhobenen Hauptes, im Sonntagsstaat, mit würdevollen Gesichtern. Diese Fotos belegen Berglers Einschätzung, dass der Streik »bereits während seiner Laufzeit zum Mythos wurde«.
Auch Kurt Schneegaß hat schon als Kind erfahren, wie stolz sich Textilarbeiter an die Geschlossenheit der Streikenden, aber auch an die breite Unterstützung erinnerten. Schneegaß, ein 87-jähriger Rentner, der viele Jahre in einer Weberei arbeitete, besitzt ein »Streikbuch«, einen prachtvoll gebundenen Wälzer, der zum 25.Jahrestag des Streiks vom Deutschen Textilarbeiterverband herausgebracht wurde. »Einen Familienschatz« nennt er das Buch. Ein Bild zeigt eine Rangelei zwischen einer Frau, die Streikposten vor einer Firma Donath steht, und dem Unternehmer. Zu dieser Zeichnung hat Schneegaß eine besondere Beziehung: »Vor diesem Werkstor hat auch meine Großmutter gestanden.«
Helene Rothenberger, damals eine junge Mutter, gehörte zu den vielen Frauen, die um mehr Zeit für Familie und Kinder stritten. Sie litt wie ihre Kolleginnen unter Arbeitstagen, die von 6.30 bis 19 Uhr dauerten und selbst samstags erst 18 Uhr endeten. »Wenn die Fabrikantenfrauen nur einmal spüren würden, wie einem des Abends beim Heimweg die Knie zittern«, zitiert die zeitgenössische Sozialreformerin Alice Salomon eine der Streikenden, »würden sie ihren Männern sagen, dass elf Stunden zu viel sind.« Die Frauenrechtlerin konstatiert, eine Crimmitschauer Arbeiterin habe »Kinder, aber sie kann ihnen nicht Mutter sein; sie hat einen Lebensunterhalt, aber sie führt kein Leben«.
»Eine Stunde für das Leben« lautete daher das prägnante Motto des Ausstandes, den Härte ebenso wie Anteilnahme kennzeichnen. Zunächst hatten die Fabrikanten, die sich erstmals zur Zusammenarbeit in einer Art Unternehmerverband genötigt sahen, Versammlungen der Streikenden in Lokalen verbieten lassen. Als selbst Weihnachtsfeiern per Polizeiverordnung verhindert wurden, gab es eine Welle der Solidarität. Überregionale Zeitungen berichteten; im Reichstag kam der Streik zur Sprache. Der Konsumverein Leipzig-Plagwitz lieferte 7000 Stollen; Geldspenden füllten die Streikkasse; in Böhmen angeheuerte Arbeiter machten am Crimmitschauer Bahnhof kehrt, als sie merkten, dass sie als Streikbrecher engagiert worden waren.
Durch den Ausstand, sagt Claudia Baum vom Textilmuseum, ist Crimmitschau »berühmt geworden«. Geschichtsbücher erinnern an den Arbeitskampf. In der Stadt fanden seit 1963 regelmäßig »Weberfestspiele« statt. Das örtliche Heimatmuseum wurde 1973 in die »Gedenkstätte Crimmitschauer Textilarbeiterstreik 1903/04« umgewandelt. Zwar wurde die Einrichtung, in der des »heldenhaften, aufopferungsvollen Kampfes der Arbeiterklasse« gedacht wurde, nach dem Ende der DDR aufgelöst. Doch schon 1993 erinnerte das neue Textilmuseum in einer umfassenden Ausstellung erneut an den Ausstand.
Auch das jetzige runde Jubiläum wird gebührend gefeiert. Schüler kleben täglich eine Zahl in ein Fenster des örtlichen Gymnasiums und zählen so die damaligen Streiktage. Zur Ausstellungseröffnung fand der Rathauschef anerkennende Worte über den Arbeitskampf. Es gibt, sagt Baum, noch immer »einen großen Stolz auf die damaligen Streikenden«. Bezüge zur Gegenwart werden indes auffällig vermieden. Das liegt zum einen daran, dass es Textilindustrie in nennenswertem Umfang kaum noch gibt. Die Branche hat in ganz Westsachsen noch 5000 Mitarbeiter - weniger, als vor 100 Jahren allein in Crimmitschau streikten. Die drei kleinen Unternehmen in der Stadt gehören nicht gerade zu den florierenden Relikten. Der Inhaber des einzigen noch existierenden Betriebes, der 1903 bestreikt wurde, bittet von Anfragen abzusehen. Doch auch eine zum Jubiläum geplante Zusammenarbeit zwischen dem Museum und der IG Metall, die seit ein paar Jahren für die Textilarbeiter zuständig ist, gestaltete sich schwierig. Ursprünglich war geplant, dass die Gewerkschaft eine Broschüre zum Textilarbeiterstreik finanziell unterstützt und gemeinsame Veranstaltungen organisiert. Von dem Vorhaben nahm das Museum nach zunächst fruchtbaren Kontakten indes Abstand.
Die Gründe dafür dürften in einem aktuellen Streik liegen. Im Sommer wollte die Gewerkschaft im Osten die 35-Stunden-Woche durchsetzen und legte dafür viele Metallbetriebe in Westsachsen lahm. Bei der Frage, ob der Ausstand 1903/04 und der Arbeitskampf 2003 etwas miteinander zu tun haben, gehen die Ansichten im Museum und bei der IG Metall indes auseinander. Brigitte Fischer, für die Textilbranche zuständige Gewerkschaftssekretärin in Zwickau, sieht »selbstverständlich Parallelen«. Dagegen warnen Museumsmitarbeiterinnen vor simplen historischen Vergleichen.
Die Wissenschaftlerinnen mühen sich in der Ausstellung, auf die ungleich härteren Arbeitsbedingungen zu Beginn des 20.Jahrhunderts hinzuweisen, als Lärm und Dreck in den Fabriken schier unerträglich waren, Versicherungen gerade erst entstanden und der Lohn kaum für anständiges Essen reichte. Sie wollen jedoch auch zeigen, »was die Menschen trotzdem aus ihrem Leben gemacht haben«. Breiten Raum nimmt die Darstellung des Alltagslebens von Arbeitern um 1900 ein - von Turn- über Gesangs- bis zu Konsumvereinen. Das Museum, sagt Baum, wolle »den Mythos in die Wirklichkeit« und gleichzeitig in die »historischen Verhältnisse« einordnen.
Gewerkschafterin Fischer dagegen lobt zwar die ausgewogene Ausstellung, bedauert aber die Beschränkung »auf das Historische«. Sie sieht bei aller notwendigen Differenzierung auch Parallelen. Noch immer gebe es in der Textilindustrie schlechte Arbeitsbedingungen. Unlängst wurde der Fall einer Teppichweberin aus dem Erzgebirge bekannt, die mit 5,11 Euro pro Stunde entlohnt wurde. Der Tarif liegt bei 9,22 Euro. Die Unterschreitung sei »knapp an der Grenze zur Sittenwidrigkeit«, erklärt Fischer und nennt weitere Fälle. Näherinnen würden teilweise mit 3,50 Euro abgespeist - ein »Trauerspiel«. Für die Gewerkschafterin zeigt sich an solch offener Ausbeutung ein »Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, der heute wie vor 100 Jahren existiert«. Dass sich die Gewichte indes verschoben haben, hat auch die IG Metall inzwischen erfahren. 1903 baten Crimmitschauer Händler, die nach mehreren Streikwochen unter der sinkenden Kaufkraft litten, beide Streikparteien um eine Übereinkunft; die Politik suchte zu vermitteln, scheiterte aber an der Sturheit der Unternehmer. Beim Metallerstreik 2003 stellten sich Kommunalpolitiker offen auf die Seite der Arbeitgeber. Rathauschefs, darunter der Oberbürgermeister von Crimmitschau, schoben eine demonstrative Sonderschicht in einem bestreikten Betrieb. Die Politiker, sagt Fischer, hätten sich hundert Jahre später »in einem Maße eingemischt, wie wir das aus der Tarifgeschichte nicht kennen«.
Solche Vergleiche zum historischen Ereignis wird die IG Metall nun auf einer eigenen Veranstaltung ziehen, die Ende Januar stattfindet und zu der Spitzenfunktionäre sowie 200 Gäste eingeladen sind. Sie werden dort allerdings auch einräumen müssen, dass Streiks wie 1903 in der Branche heute nicht mehr denkbar wären. In den meisten Textilbetrieben geht es nur noch darum, Stellen zu erhalten. Selbst eklatante Fälle von Lohndumping würden oft erst nach Entlassungen publik. Die Mitarbeiter, sagt Fischer, treibe »schiere Angst um ihren Job.«
Die Gewerkschafterin räumt angesichts fehlender Kampfbereitschaft ein, dass sich die Zeiten geändert haben. Kurt Schneegaß indes schüttelt den Kopf. Der Textilarbeiter, der einst im Arbeiterschwimmverein war und 1946 in die SPD eintrat, hat wenig Verständnis dafür, dass Beschäftigte inzwischen ihre Arbeitszeit freiwillig verlängern, weil nur so die Betriebe zu retten seien. Es sei »unglaublich«, sagt Schneegaß, »was der Arbeiter heute wieder mit sich machen lässt«.