Christa Wolf und Anna Seghers in Briefen, Gesprächen und Essays
Christel Berger
Lesedauer: 6 Min.
Was verband und was trennte Anna Seghers - die »Frau mit dem männlichen Blick« - und Christa Wolf, die für manche als der Inbegriff weiblichen Schreibens gilt? »Ob man es nun sagt oder nicht - jedenfalls gibt es einen notwendigen Schmerz der Fremdheit im Bannkreis gewünschter Nähe, dem muß man sich aussetzen, neben so vielen unnötigen Schmerzen, die wir einander zufügen.« Das schrieb Christa Wolf 1974 in ihrem Essay »Fortgesetzter Versuch« über das Verhältnis zwischen Anna Seghers und ihr. Da hatte sie schon lange das Projekt einer Anna-Seghers-Biografie aufgegeben. Wohl oft hatten sie miteinander gesprochen, und Anna Seghers hatte einiges über ihr Leben erzählt, um dann jedoch darum zu bitten: »Behalt es für dich.« So nahe waren sie sich gekommen, die Weltautorin und die junge Germanistin, die zu Beginn ihrer Bekanntschaft noch als Redakteurin arbeitete, sich dann jedoch als Autorin versuchte, deren zweites Buch »Der geteilte Himmel« bereits ein Bestseller wurde.
Anna Seghers erkannte das Talent der Jüngeren, aus ihren Briefen spricht Wohlwollen, Interesse, ja Zuneigung, und allmählich verlor sich Christa Wolfs etwas steifer Respekt vor der Bewunderten. Die Briefe deuten auf Zusammenkünfte, die Christa Wolf die Scheu nahmen. Das hier Erfahrene und Erarbeitete nutzte Christa Wolf zu ihrem ersten großen Essay über Anna Seghers »Glauben an Irdisches« (1968) anlässlich der Publikation von Anna Seghers' Essays im Reclam-Verlag. Heute wiedergelesen, erstaunt es mich, wie viel Christa Wolf bereits damals über Anna Seghers wusste. (Manches davon hielten wir Literaturwissenschaftler später als von uns »neu erforscht«.) Es ist eine Annäherung vor allem an die junge Anna Seghers. Alle späteren Biografen übernahmen daraus zwar die Grundkonstellation, konnten aber längst nicht so einfühlsam beschreiben, was Anna Seghers mit den großen deutschen Schriftstellern Hölderlin, Kleist, Büchner, Lenz, Bürger, der Günderode verband, die allesamt scheiterten, sich »ihre Stirnen wundgerieben« hatten an den »gesellschaftlichen Mauern« ihres Landes. Die junge Autorin konnte die Angst vor dem Scheitern - und das Recht darauf - ganz anders nachfühlen als ein noch so gründlicher Historiker.
Die Beziehung zwischen beiden wurde mit der Entwicklung in der DDR vor harte Proben gestellt: Anna Seghers erlebte die barsche Kritik des Schriftstellerverbands, dessen Präsidentin sie war, an Christa Wolfs Roman »Nachdenken über Christa T.«, sie stand während der Biermann-Auseinandersetzung nicht auf Seiten der Protestierenden, und sie las »Kindheitsmuster« ganz anders als viele. Letzteres beschrieb sie in einem Brief; zu den anderen Meinungsverschiedenheiten sind nur Andeutungen, bzw. gar nichts im Briefwechsel zu finden. So etwas machte man in diesem Lande mündlich ab.
Ein Brief jedoch verrät die Angst von Anna Seghers, die jüngere Freundin zu verlieren. Im Herbst 1977 - nach einer längeren Krankheit - schreibt sie, sie habe von Christa Wolf geträumt. »Du bist im Schwimmanzug an einem mir fremden Strand herumgelaufen, und jemand hat mir erklärt, Du seist nach Südafrika gegangen.« Christa Wolf beruhigt die Kranke: »... ich werde nicht an fremden Stränden sein, so schön ist's ja da nun auch wieder nicht.« Die Antwort von Anna Seghers darauf ist der Satz, der im Wissen um die Unterschiede, ja Gegensätze das große Vertrauen der Alten in die Junge ausdrückt: »Schreib, was Dir zusteht, liebe Christa, und schreib es richtig.« Wohl steckt im Nachsatz noch immer der Glaube ihrer Generation, über »richtiges« und »falsches« Schreiben urteilen zu können, dabei blieb sie, aber die Jüngeren »loszulassen«, Anna Seghers vermochte es. Sie akzeptierte, dass sie schrieben, »was ihnen zustand«. Dabei verleugneten Schriftsteller wie Christa Wolf, Volker Braun oder Heiner Müller die Mentoren nicht. Manchmal wollten sie sie »schonen«, wenigstens in den persönlichen Briefen. Da ging es nie um Politik, man wollte den Schmerz der Fremdheit lindern.
Nach dem zum ersten Mal vollständig veröffentlichten Briefwechsel zwischen Christa Wolf und Anna Seghers folgen im Buch sämtliche Interviews und Essays Christa Wolfs über Anna Seghers. Sie nacheinander lesen zu können, ist ein wunderbares Geschenk der Herausgeberin Angela Drescher. Was Christa Wolf in den verschiedenen Jahren an der Seghers interessierte, spiegelt sowohl das fortgesetzte intensive Bemühen, die Mentorin in ihrem Anders-Sein und den Gemeinsamkeiten verstehen zu wollen, als auch die jeweilig aktuellen Probleme, mit denen Christa Wolf sich rumschlägt.
Wohl erst nach dem Ende der DDR wird auch das Bild der alten Anna Seghers plastisch. Christa Wolf erzählt von Annas List im Umgang mit ihren Genossen, von der Disziplin, die sie sich auferlegte, von der Treue, die ihr Wesen bestimmte; eine Entwicklung, deren Wurzeln in Anna Seghers' Jugend liegen.
Eben darum geht es auch in einem weiteren neuen Buch aus dem Aufbau-Verlag: »Und ich brauch doch so schrecklich Freude«. Der Band enthält ein erst jetzt gefundenes Tagebuch vom November 1924 bis Mai 1925 und eine frühe, noch nicht veröffentlichte Erzählung von Anna Seghers, die damals noch Netty Reiling hieß. Es ist die Zeit, die die gerade promovierte Kunsthistorikerin bei ihren Eltern in Mainz verbringt, wartend auf eine grundsätzliche Lebensentscheidung. Sie weiß, dass sie schreiben will und versucht sich. Sie liebt »Rodi«, (Laszlo Radvany), Studienkollege, Sozialist und ungarischer Jude. Die gut bürgerlichen orthodoxen Eltern sind damit nicht einverstanden, und in dieser Situation zwischen Eltern und dem stellungsuchenden Geliebten notiert Netty ihre Stimmungen. Bruchstückhaft, manchmal nur ein Wort oder ein Satz, Bekannte und Freunde haben nur einen Anfangsbuchstaben. »Gott hilf!« - ist mehrfach zu lesen (vier Jahre später wird sie Mitglied der KPD, was Rodi bereits ist). Sie schreibt auch von Fremdheit, die das Elternhaus auslöst. Eine solche Trennungsphase haben damals viele junge Intellektuelle vollzogen. Im Unterschied zu anderen scheint Netty so lange wie möglich nach einer gütigen Lösung gesucht zu haben. Die für heute zuweilen rätselhaften Tagebucheintragungen bezeugen die Schmerzen, die die 24-Jährige litt.
Aber auch das Verhältnis zum Geliebten war nicht unproblematisch. Am ersten Weihnachtsfeiertag 1924 notiert sie: »Rodi den Bischof gelesen u Enttäuschung gehabt.« Offenbar handelt es sich um die hier abgedruckte Geschichte eines Bischofs, der zum Lustmörder wurde. Im Gefängnis sucht er die Nähe zu den Mitgefangenen, indem er ständig die Geschichte seiner Tat erzählt. Aber die anderen können es schon nicht mehr hören. Allein die Fähigkeit, durch Handauflegen heilen zu können, macht ihn für die Gefährten wichtig. Diese Fähigkeit verliert er jedoch, als er nach seiner Flucht aus dem Gefängnis eine Frau trifft, sie liebt, aber nicht heilen kann. Er verlässt sie, wird zum Bettler vor seiner Kirche und stirbt, als er hört, was seine Geliebte für ihn getan hat und wie sie gestorben ist.
Eine merkwürdige, noch rohe Geschichte, in der manches von der Erzählkunst einer späteren Anna Seghers anklingt, ähnlich vielleicht den rätselhaften Erzählungen »Sagen von Artemis« (1937) oder »Das Argonautenschiff« (1948/49). Dass Rodi sie damals vielleicht auch nicht verstand, mag den heutigen Leser nach der ersten Lektüre trösten.
Christa Wolf / Anna Seghers: Das dicht besetzte Leben. Briefe, Gespräche und Essays. Herausgegeben von Angela Drescher. Aufbau Taschenbuch-Verlag, 236 Seiten, Broschur, 7,95 EUR.
Anna Seghers: Und ich brauch doch so schrecklich Freude. Tagebuch 1924/1925. Die Legende von der Reue des Bischofs Jehan d' Aigremont. Herausgegeben von Christiane Zehl-Romero. Aufbau-Verlag, 111 Seiten, gebunden, 15,90 EUR.
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