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Es gab keine Gaskammern, aber die entsetzliche Mauer

  • Lesedauer: 6 Min.

Sehr geehrter Herr Nitsche,

ich weiß nicht, woher Sie den Unsinn haben, ich hätte „die DDR mit dem faschistischen Staat und das MfS mit der Gestapo“ gleichgesetzt. Bitte teilen Sie mir mit, wo Sie das gehört oder gelesen haben, damit ich gegen die Verleumder rechtliche Schritte einleiten kann.

Aber vielleicht beziehen Sie sich ja auf meine Dresdner Rede vom 13. Februar 1994. Dort habe ich mich mit den schlimmen Menschenrechtsverletzungen, die sich die DDR hat zuschulden kommen lassen, auseinandergesetzt und u. a. ausführlich an die entwürdigende Prozedur erinnert, die wir über uns ergehen lassen mußten, wenn wir von unserem Menschenrecht auf Reisefreiheit Gebrauch machen wollten. Ich habe an den weißen Strich erinnert, den die DDR-Behörden auf dem Bahnsteig Friedrichstraße gezogen haben, damit die Reisenden nicht den Bluthunden, mit denen die Züge abgesucht wurden, zu nahe kamen. In diesem Zusammenhang habe ich gesagt: „Der weiße Strich auf dem Bahnsteig war nicht minder zynisch als der Spruch Arbeit macht frei an den Toren der Konzentrationslager.“

Dies, sehr geehrter Herr Nitsche, ist weder eine Gleichsetzung der DDR mit dem faschistischen Staat noch des Nationalsozialismus mit dem Realsozialismus. Ich habe zwei konkrete Tatbestände ins Ver-

hältnis zueinander gesetzt und ihre Wurzeln benannt: jenen menschenverachtenden, jeweils ideologisch begründeten Zynismus, der beiden Systemen zu eigen war. Sie dürfen mir glauben, daß ich die Unterschiede genau kenne und weiß, daß eine Gleichsetzung natürlich historisch falsch und unzulässig ist. Aber ich weiß auch um die Gemeinsamkeiten beider totalitärer Systeme, und dazu gehört, daß der Staatssicherheitsdienst der DDR nicht minder rücksichtslos, menschenverachtend und zynisch gegen Menschen vorgegangen ist als die Gestapo, und nicht minder brutal Menschen gequält, gefoltert, verfolgt, zerstört, getötet hat. Nein, es gab in der DDR keine Konzentrationslager, aber es gab die sibirischen Lager und die entsetzlichsten Gefängnisse, in denen Menschen wie Tiere gehalten wurden. Es gab keine Gaskammern, in denen Millionen Menschen vernichtet wurden. Aber es gab die entsetzliche Mauer, an der man Menschen wie ein Tier verrecken ließ und noch 1988, mitten in Europa, Menschen jagte und erschoß. Ich schicke Ihnen gern den Text meiner Rede, damit Sie nachlesen können, was ich wirklich gesagt habe.

Ihre Empfehlung, sehr geehrter Herr Nitsche, mir den Film Schindlers Liste anzusehen, zeugt von einer fatalen Ignoranz und ist eigentlich geradezu komisch. Dennoch bin ich über die gemeine Unterstellung, die in Ihrer Zuschrift

steckt, aufs äußerste empört und erwarte Ihre öffentliche Entschuldigung. Wenn Sie schon solche Empfehlungen von sich geben, dann sollten Sie sich wenigstens zuvor sachkundig machen und wissen, mit wem Sie es zu tun haben. Oder ging es Ihnen nur um eine gemeine Diffamierung?

Wissen Sie denn wirklich nicht, daß ich 1964 zu den jungen Christen gehörte, die von den DDR-Behörden daran gehindert wurden, nach Auschwitz zu pilgern, und das, obwohl wir von polnischen Parlamentariern eingeladen waren? Wissen Sie nicht, daß ich dann 1965 mit der Aktion Sühnezeichen in Auschwitz war und dort im Lager Birkenau die erste Vergasungsstätte ausgegraben habe - eine überaus schmerzliche Arbeit, die mich zum entschiedenen Antifaschisten gemacht hat? Daß ich u. a. wegen dieser meiner antifaschistischen Überzeugung und Arbeit seit 1966 vom Staatssicherheitsdienst überwacht und bespitzelt wurde, bis in den Dezember 1989 hinein? Daß ich 1968 als erster einen Film über die jungen jüdischen Antifaschisten um den kommunistischen Widerstandskämpfer Herbert Baum gedreht habe? Daß ich 1980 zusammen mit Walther Petri, gegen erhebliche antisemitische Vorurteile der SED-Zensoren, den Film Dawids Tagebuch über den jüdischen Jungen Dawid Rubinowicz gedreht

habe und 1988 den Film Ich bin klein, aber wichtig über Janusz Korczak? Daß ich so gut wie alles zugängliche Filmmaterial über die Judenverfolgung und über den Nationalsozialismus gesehen und vieles gelesen, und daß ich über den jüdischen Film und über die jüdische Presse im Dritten Reich gearbeitet und publiziert habe - das allerdings nicht in der DDR veröffentlichen konnte, sondern nur in westdeutschen und ausländischen Zeitungen? Daß ich mich jahrelang aktiv mit der schlimmen antisemitischen und antiisraelischen Politik der DDR auseinandergesetzt, Dutzende von entsprechenden Dokumenten und Belegen gesammelt habe, die in der SED-Presse, auch im Neuen Deutschland, erschienen sind und auch schon zu DDR-Zeiten dagegen vorgegangen bin? Einiges davon können Sie in einem Aufsatz nachlesen, den ich für das von Ralph Giordano herausgegebene Buch Solidarität mit Israel geschrieben habe. Daß ich im Frühjahr 1989 den Aufsatz Die neue alte Gefahr über junge Neonazis in der DDR veröffentlicht habe - was in der DDR nur in der Untergrundpresse möglich war, da der für die Lizenzen zuständige SED-Funktionär, Kurt Blecha, selbst ein ehemaliger Nazi war, der jeden wahrheitsgetreuen Bericht über die Neo-Nazis in der DDR untersagt hat? Daß ich jenen Text verfaßt habe, mit dem sich die erste freigewählte Volkskammer 1989 im Namen der DDR-Bürgerinnen und -Bür ger bei den Juden in aller Welt für das Unrecht entschuldigt hat, das ihnen im Dritten Reich und in der DDR angetan worden ist? Daß ich als Mitglied im Unterausschuß Wiedergutmachung des Deutschen Bundestages ständig mit Fragen der Entschädigung von Naziopfern befaßt bin und mich dort politisch mit dem Faschismus auseinandersetze, eine Arbeit übrigens, an der sich die PDS-Abgeordneten nur höchst selten beteiligen? Daß

ich der erste Präsident der Amcha-Stiftung war, die das von der letzten DDR-Regierung gestiftete Vermögen für die psychologische Betreuung von Opfern der Shoa verwaltet? Daß ich der erste ostdeutsche Vizepräsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft bin?

Nein, sehr geehrter Herr Nitsche, Ihre Aufforderung an mich, ich möge mir Schindlers Liste ansehen, ist eine unerhörte Provokation und Zumutung. Es gibt sicher nur wenige Ostdeutsche, die sich so inten-

siv wie ich mit dem Faschismus und mit der Judenverfolgung befaßt haben. Wahrscheinlich bin ich gerade deswegen so hellsichtig und sensibel gegenüber allem, worin sich Drittes Reich und DDR, nationaler und realer Sozialismus, NSDAP und SED, Gestapo und Staatssicherheitsdienst so schmerzlich ähnlich gewesen sind - ähnlich, aber nicht gleich! Gerade weil ich entschiedener Antifaschist bin, weiß ich, daß wir vor diesen Ähnlichkeiten und vor den gemeinsamen Wurzeln, die es

dafür gibt, die Augen nicht verschließen dürfen - auch wenn die Wahrheit noch so bitter und grausam und natürlich auch für mich schmerzlich ist. Mich jedenfalls werden weder die beinahe täglichen Bedrohungen durch Rechtsradikale noch die verbalen Angriffe von DDR-Nostalgikern und PDS-Sympathisanten davon abhalten, diese bittere Wahrheit auszusprechen, sei es gelegen oder ungelegen.

Mit freundlichen Grüßen

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