Erben im Urteil

Berlin verpflichtet, EGM-Entscheid umzusetzen

  • Dr. jur. Gundula Weitzberg
  • Lesedauer: 5 Min.
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGM) vom 22. Januar 2004 entfaltete unmittelbare oder mittelbare Rechtswirkungen ausschließlich für Erben von Bodenreformland in den Fällen, in denen - mit Stichtag 16. März 1990 - im Grundbuch das Bodenreformeigentum auf den Namen des Erblassers eingetragen war. Es entfaltet keine Rechtswirkung in Fällen, bei denen bereits vor dem 16. März 1990 ehemaliges Bodenreformeigentum in Volkseigentum überführt wurde. Das Urteil gilt also nicht für sämtliche Erben von Bodenreformeigentümern, die nach Rechtsvorschriften der DDR das Bodenreformeigentum ihrer Eltern nicht selbst übernehmen konnten. Unberücksichtigt bleiben auch Fälle, in denen eine Rückübertragung von Bodenreformland von Ämtern zur Regelung offener Vermögensfragen explizit abgelehnt wurden. Nach bisherigen Angaben sollen 100000 Hektar Bodenreform-Land durch gerichtliche Auflassung oder bereits auf behördliche Anforderung in das Eigentum der fünf neuen Länder übergegangen sein. Bei einer durchschnittlichen Größe von 8 Hektar ist also von etwa 12000 bis 13000 Fällen auszugehen, die unter das EGM-Urteil fallen. Die Zahl der Mitglieder möglicher Erbengemeinschaften dürfte kaum zu ermitteln sein, dennoch wird von etwa 70 000 Erbberechtigten ausgegangen. Zunächst entfaltet das EGM-Urteil nur Rechtswirkungen zwischen den Klägern und der Beklagten, der BRD - und zwar ausschließlich in den fünf Fällen, die zur Verhandlung anstanden. Für diese ist den Vertragsparteien auch eine Frist nach Rechtskraft der Entscheidung gesetzt worden, die drei Monate nach Urteilsverkündung eintritt. Einigt man sich nicht in dieser Zeit, entscheidet das angerufene Gericht. Alle anderen Betroffenen müssen auf die Umsetzung des Urteils durch den deutschen Gesetzgeber warten. In einigen Veröffentlichungen wird geraten, dass die Bodenreform-Erben, zu deren Ungunsten rechtskräftige Urteile ergangen sind bzw. Einigungen abgeschlossen wurden, bei den zuständigen erstinstanzlichen Zivilgerichten innerhalb einer Notfrist vor Ablauf eines Monats nach Kenntnis von dem Anfechtungsgrund eine Restitutionsklage erheben sollten. Diese Frist soll am 22. Februar 2004 ablaufen. Nach Ansicht der Autorin beginnt diese Frist von einem Monat jedoch erst zu laufen, wenn das EGM-Urteil endgültige Rechtskraft erlangt. Darüber hinaus ist die Restitutionsklage für alle Verfahren ausgeschlossen, die länger als fünf Jahre rechtskräftig geworden sind. Es ist daher Betroffenen ernstlich zu raten, sich sorgfältig individuell anwaltlich beraten zu lassen. Eine unzulässige Klage zieht bekanntlich Kosten nach sich. Das EGM-Urteil schafft auch keinen Rechtsanspruch auf Rückgabe des jeweiligen Landes, es verweist auf Entschädigungsleistungen. Auch wenn er einen weiten Spielraum hat - zur angemessenen Umsetzung des Urteils ist der deutsche Gesetzgeber verpflichtet, allein schon deshalb, weil der EGM darauf verwiesen hat, dass mit den Regelungen des 2. Vermögensänderungsgesetzes in Rechte ehemaliger DDR-Bürgern in einer Weise eingegriffen wurde, die grundlegende Menschenrechte verletzt, insbesondere das Recht auf Eigentum. Das Gericht stellte nach außerordentlich prägnanter Wertung der Bodenreform in der SBZ fest, dass Neubauern Land erhielten, das ihr Eigentum darstellte und vererbbar war, aber einer Veräußerungs-, Verpachtungs- und Belastungsbeschränkung unterlag. Die nachfolgende Gesetzgebung in den Ländern der Sowjetischen Besatzungszone erließ Bodenreform-Verordnungen bzw. Gesetze, mit denen nach dem Tode des Neubauern nur solche Erben das Land weiter nutzen durften, die selbst zuteilungsberechtigt waren. In der DDR wurde diese gesetzgeberische Linie fortgesetzt - und zwar zu Ungunsten aller nicht in der Land- und Forstwirtschaft tätigen Erben von Bodenreformeigentümern, zuletzt mit der Verordnung über die Durchführung des Besitzwechsels bei Bodenreformgrundstücken vom 7. 8. 1975, in der Fassung vom 7. 1. 1988. Lagen diese Voraussetzungen nicht vor, fiel das Bodenreformland zurück in den Staatlichen Bodenfonds. Mit dem Gesetz über die Rechte der Eigentümer von Grundstücken aus der Bodenreform vom 6. März 1990 (Modrow-Gesetz) wurde diese Beschränkung des Bodenreformeigentums ausdrücklich aufgehoben und erklärt, dass sofort für alle Bürger der DDR das Erbrecht des ZGB uneingeschränkt gelten sollte. Die »Zuteilungsfähigkeit« entfiel. Damit sah der EGM einen Rechtsschutz für alle diejenigen Erben als gegeben an, bei denen die Erblasser zu diesem Zeitpunkt im Grundbuch standen, weil eine Umschreibung nicht erfolgt oder aus sonstigen Gründen unterblieben war. Das wesentlichste Argument des EGM für sein Urteil lautete, dass mit dem Artikel 48 des Staatsvertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der BRD und der DDR vom 18. Mai 1990 beide deutsche Staaten sich den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft und dem Schutz des Rechts des Eigentums verpflichtet haben. Das Gericht berücksichtigte die Schwierigkeiten des bundesdeutschen Gesetzgebers sehr wohl, indem es ausdrücklich hervorhob, dass die DDR-Autoritäten sich an ihre eigenen Regeln nicht korrekt hielten. Dadurch wurden die Grundbücher nicht bereinigt und der nun gerichtlich behandelte Tatbestand geschaffen. Das Gericht sah sich jedoch auf Grund der ihm als europäischem Gericht zugestandenen Rechtsmacht gehalten, selbst in diesen Fällen den Mindestschutz für europäische Bürger zu gewähren - ungeachtet des Interesses des gesamtdeutschen Gesetzgebers bei solch tief greifenden sozialen Wandlungen. Der EGM verwies darauf, dass durch den »Modrow-Akt« Rechtssicherheit im öffentlichen Interesse geschaffen wurde, weil dieser völkerrechtlich übergreifenden rechtsstaatlichen Prinzipien entsprach. In der Folge hätte die mit dem so genannten 2. Vermögensrechtsänderungsgesetz geschaffene Ausdifferenzierung des Rechtszustandes nur bei einem Ausgleich zwischen den Interessen der Allgemeinheit und den individuellen grundlegenden Rechten der Bürger erfolgen dürfen. Dagegen verstieß die im Gesetz vorgenommene Qualifizierung von »Besserberechtigten«. Über diese Quintessenz des Urteils wird noch sehr unaufgeregt nachzudenken sein. Der Prozess der deutschen Einheit als Teil eines europäischen Prozesses hat nun aus juristischer Sicht die Wertung erfahren, dass der Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der BRD und der DDR bereits auf beiden Seiten rechtsstaatlich organisierte Partner hatte und zur Einhaltung der Grundprinzipien einer europäischen Ordnung einschließlich der vorgehenden Rechte der Bürger verpflichtete und damit übergreifende Bedeutung erlangte, insbesondere für die europäische Verfassungs- und Rechtseinheit. Die Bundesregierung wäre schlecht beraten, wenn sie gegen diese Grundsätze des Urteils vorgehen wollte. Die Autorin ist Rechtsanwältin in Berlin und Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Bank/Börsenrecht/Kapitalmarktrecht im Deutschen Anwaltverein

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