Materialismus mit Materie

Der Umweltsoziologe Éric Pineault sucht dafür in »Die soziale Ökologie des Kapitals« ein neues Paradigma des Ökomarxismus

  • Maximilian Hauer
  • Lesedauer: 7 Min.
Hier fließen die »Flüsse« von Materie und Energie: Luftaufnahme eines mineralischen Rohstoffhafens
Hier fließen die »Flüsse« von Materie und Energie: Luftaufnahme eines mineralischen Rohstoffhafens

Kritische Gesellschaftstheorie verwendet oftmals die Selbstbezeichnung »Materialismus«. Paradoxerweise kommt aber der herkömmliche Materialismus in der Regel ganz ohne den Begriff der Materie aus. Stattdessen unterstreicht er das Eigengewicht von gesellschaftlichen Verhältnissen, körperlichen Merkmalen oder lebensgeschichtlichen Prägungen, die der Gestaltungsfreiheit Grenzen setzen. Materie dient als Metapher: Man borgt sich eine sprichwörtliche Schwere, um das Beharrungsvermögen von Realitäten zu veranschaulichen, die dem Subjekt vorgeordnet sind.

Unter dem Eindruck zunehmender ökologischer Krisen deutete sich seit den 70er Jahren eine Rückbesinnung auf die Materie in der marxistischen Theoriebildung an. Die seitdem anwachsende Literatur des ökologischen Marxismus pocht vehement auf die stoffliche Dimension der Gesellschaft und die gefährlichen ökologischen Verwerfungen, die aus der kapitalistischen Form der gesellschaftlichen Arbeit entstehen. Oft ging sie dabei aber philologisch vor und erarbeitete neue Marx-Lesarten ausgehend von dessen Diagnose von einem »unheilbaren Riß … in dem Zusammenhang des gesellschaftlichen und natürlichen … Stoffwechsels«. Dieses Vorgehen stieß jedoch an eine Grenze. Denn das Studium 150 Jahre alter Exzerpthefte kann eine empirische Stoffwechselanalyse des gegenwärtigen Weltkapitalismus nicht ersetzen.

Diese Lücke versucht der kanadische Umweltsoziologe Éric Pineault mit seinem jüngst auf Deutsch erschienenen Buch »Die soziale Ökologie des Kapitals« zu schließen. Auf nur 190 Seiten will der dichte, technisch gehaltene Text bislang getrennte Forschungsstränge über gesellschaftliche Stoffwechselprozesse zu einem neuen sozialökologischen Paradigma verknüpfen.

Globaler Stoffwechsel

In Anlehnung an Marx, der Entwicklungen der zeitgenössischen Agrar- und Forstwirtschaft, Chemie, Geologie und Biologie rezipierte und für seine eigene Theoriebildung nutzte, will auch Pineault naturwissenschaftliche Einsichten für eine kritische Theorie der Gesellschaft fruchtbar machen. Dabei legt er sein Augenmerk insbesondere auf die Material- und Energieflussanalyse, einen umweltwissenschaftlichen Ansatz, den Marina Fischer-Kowalski und ihre Kolleginnen vom Wiener Institut für Soziale Ökologie seit den 80er Jahren entwickelt haben.

In einer hochgradig abstrakten, totalisierenden Draufsicht auf die Erde werden hierbei die globalen »Flüsse« von Materie und Energie nachvollzogen, das heißt die Bahnen, auf denen nichtmetallische Mineralien, organische Erzeugnisse, Erze und fossile Brennstoffe durch die Weltwirtschaft geschleust werden. Nach der Extraktion aus diversen Quellen – Böden, Meere und geologische Reservoirs – erfahren diese Stoffe unter der Aufwendung von Energie diverse materielle Umwandlungen, etwa in der industriellen Produktion und im Konsum, bevor sie schließlich in verschiedenen »Senken« entsorgt werden – sei es in Deponien, zu Land, in den Gewässern oder in der Atmosphäre.

Doch auch wenn diese Abfallstätten jenseits der sozialen Aufmerksamkeit und häufig auch räumlich fernab der wohlhabenden Zentren liegen, gehe in dem materiell geschlossenen System Erde nichts wirklich verloren. Als Abfall ändern die Stoffe lediglich ihre Form und entfalten auch nach dem Erlöschen ihres Tausch- und Gebrauchswerts beunruhigende Wirkmacht, indem sie die Funktionsweise wichtiger Stoffkreisläufe des Erdsystems stören. So sorge etwa die massenhafte atmosphärische Entsorgung von CO2, einem Abfallprodukt fossiler Brennstoffe, für eine epochale Zerrüttung des planetarischen Kohlestoffkreislaufs, die wiederum für den Klimawandel verantwortlich sei.

Bestimmung der Stoffwechselregime

Die gewaltigen Materie- und Energieströme lassen sich nach ihren Eigenschaften gruppieren und geografisch sowie historisch differenziert in Gigatonnen (Milliarden Tonnen) und Gigajoule messen, woraus der Autor zahlreiche informative Diagramme und Tabellen erstellt. Dabei kann er auch den wichtigen empirischen Nachweis erbringen, dass das Wachstum der ökonomischen Wertschöpfung bislang immer mit einem ansteigenden Materialverbrauch verbunden blieb, sodass ein grüner Kapitalismus eine gefährliche Illusion darstellt.

Es lassen sich jedoch auch qualitative Unterscheidungen im Stoffwechselprozess treffen. So lege ein Teil dieser Stoffe als »Durchsatz« verhältnismäßig schnell den Weg von der Quelle zur Senke zurück: Denken wir etwa an Erdöl, das von den Ölfeldern durch Pipelines, Raffinerien, Lager- und Verkaufsstätten bis in die Motoren fließt, in denen es letztlich verbrannt wird. Neben diesem Durchsatz sammeln sich auf der Erde auch relativ dauerhafte »Bestände« an, sei es in Form von organischen Körpern (Menschen oder Tieren) oder unbelebten Artefakten wie Gebäuden, Autos, Haushaltsgeräten und ähnlichem mehr. Diese Artefakte präformieren im Zusammenspiel mit kulturell eingeübten Praktiken den zukünftigen Durchsatz, da zu ihrer Erhaltung und Nutzung stetig neue Materie- und Energieinputs mobilisiert werden müssen, was etwa am Beispiel des Autos augenfällig ist.

Schließlich lasse sich auf dieser Grundlage eine historische Periodisierung verschiedener Stoffwechselregimes vornehmen, die sich hier vor allem hinsichtlich der Quellen unterscheiden, aus denen sie Materie und Energie schöpfen. Über die längste Zeit seien Gesellschaften vor allem vom permanent einstrahlenden Sonnenlicht abhängig gewesen, das durch die Fotosynthese organisches Pflanzenwachstum ermöglichte, welches wiederum die Grundlage des Nahrungsnetzes für Tiere und Menschen darstellte. Die Entnahme abiotischer Materialien aus der Erdkruste habe demgegenüber eine untergeordnete Rolle gespielt und die gesellschaftlich verfügbare Energiemenge sei entsprechend begrenzt geblieben.

Der Kapitalismus sei jedoch im Laufe seiner Geschichte zu einem fossilen Energiesystem übergegangen. In dieser »umgekehrten Welt« werde der Energiebedarf zu großen Teilen durch die Verbrennung von Materialien aus geologischem Ursprung gedeckt: »Die metabolische Grundlage der Gesellschaft verlagert sich von der Ökologie zur Geologie«, hält Pineault fest. Damit durchbreche der fossile Kapitalismus die Energieschranke des agrarischen Zeitalters und erschließe sich die schier unendlichen unterirdischen Energiequellen, die er für seinen unendlichen Akkumulationsprozess benötigt. Der globale Klimawandel und die anderen gestörten planetarischen Stoffkreisläufe können dann als Wiederkehr natürlicher Grenzen auf einem welthistorisch neuen, geologischen Maßstab begriffen werden.

Naturwissenschaftliche Ideologiekritik

Pineault zufolge fehlt dem Marxismus bislang eine geeignete »Sprache«, um die biophysikalische Dimension des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur adäquat zu erfassen. Dieses lückenhafte Begriffsnetz führe dazu, dass die Momente der Extraktion und der Entsorgung in der Kritik der politischen Ökonomie nicht ausreichend zur Darstellung kommen und somit auch politisch nicht angemessen adressiert werden können. Der Fokus auf die industrielle Produktion des Werts verschleiere dabei tendenziell das Geschehen an den Quellen und Senken, die um ein Vielfaches größeren Materie- und Energieströme des Durchsatzes und den ökologisch brisanten Widerspruch zwischen monetärer und stofflicher Logik: Die »Reversibilität der kapitalistischen Wertform steht in starkem Kontrast zur thermodynamischen Irreversibilität des zugrunde liegenden Prozesses eines materiellen Durchsatzes, der als Stoffwechsel zu untersuchen ist«. Wie der Soziologe Simon Schaupp in seinem Vorwort treffend schreibt, leistet die Material- und Energieflussanalyse in diesem Zusammenhang »eine Art Ideologiekritik mit naturwissenschaftlich-statistischen Methoden«.

Umgekehrt spart Pineault nicht mit Kritik an der Material- und Energieflussanalyse. Diese habe zwar die Werkzeuge zur Kartierung und Vermessung der immer mächtiger anschwellenden globalen Materie- und Energieströme erarbeitet. Aber deren soziale Treiber könne sie aufgrund ihrer unzureichenden Gesellschaftstheorie nicht richtig erfassen. Hier unterstreicht er zu Recht das Erklärungspotenzial der Kritik der politischen Ökonomie, die den ökonomischen Wachstumsimperativ aus den Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Eigentumsordnung herleitet. Sehr gründlich wird in diesem Zuge auch mit der gängigen liberalen Vorstellung aufgeräumt, das permanente Wachstum des Material- und Energieverbrauchs lasse sich auf die individuellen Konsumpräferenzen von Privathaushalten zurückführen. Entscheidend ist vielmehr der »Push-Effekt«: Extraktions- und Produktionsanlagen sind für Investorinnen nur dann profitabel, wenn sie über Jahrzehnte hinweg Abnehmerinnen für ihren Output finden, sodass aktiv neue Absatzmärkte für die Absorption der für sie notwendigen Warenflut gefunden werden müssen.

Allerdings sind Pineaults theoretische Anleihen bei verschiedenen marxistischen Strömungen nicht immer schlüssig. So erweist er seinem Versuch einer marxistischen Begründung des Wachstumsimperativs durch den Rückgriff auf die Monopoltheorie einen Bärendienst, da der systemische Zwang zur Ausweitung der Produktion nur vor dem Hintergrund der Konkurrenz der Einzelkapitale begreifbar wird. Merkwürdig ist auch, dass die Lohnabhängigen in Pineaults Perspektive beinahe ausschließlich als Konsument*innen vorkommen. Dabei wird nicht nur die Gelegenheit verpasst, den Zusammenhang zwischen der Ausbeutung der Arbeitskraft und der rücksichtslosen Nutzbarmachung der Natur zu diskutieren, sondern die Klasse der Lohnabhängigen wird zudem als politisches Subjekt emanzipatorischer Veränderungen abgeschrieben. Zugleich wirkt die pauschale Behauptung eines »Wachstumskonsens« zwischen Kapital und Arbeit in den industriellen Zentren vor dem Hintergrund der letzten Jahrzehnte zunehmender ökonomischer und politischer Polarisierung anachronistisch. Schließlich kann seine Idee, die kapitalistische Wachstumsmaschinerie durch ein Patchwork sozialer Bewegungen von außen zu blockieren, wenig überzeugen. Doch ungeachtet solcher Schieflagen ist es Pineault in seinem Buch geglückt, der Materie wieder einen Platz im Materialismus zu schaffen. Und das ist nicht wenig.

Éric Pineault: Die soziale Ökologie des Kapitals. Dietz-Verlag, 192 S., br., 25 €.

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