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In Rußland wächst der Brain Drain zur Lawine

Wissenschaftler-Abwanderung verursacht horrende Schäden / „Lieber im Westen arbeitslos, als hier beschäftigt“

  • Lesedauer: 3 Min.

Von KLAUS J HERRMANN, Moskau

„In Amerika gibt es inzwischen wissenschaftliche Zentren, wo man aus russischen Wissenschaftlern Gruppen am Rande der kritischen Masse bildet und selbst Seminare in russischer Sprache abgehalten werden“, berichtete Prof. Roald Sagdejew bei einem Besuch in Moskau seinem kaum verwunderten Publikum. Er selbst könnte als Beispiel für den „Brain Drain“ herhalten, der anhaltenden Abwanderung von Wissenschaftlern. Der namhafte Plasma-Physiker war zu UdSSR-Zeiten mit 35 Jahren jüngstes Mitglied der Akademie, Chef des Institutes für Kosmosforschung und Gorbatschows Berater für Fragen des „Krieges der Sterne“ Dann ging er für Jahre in die USA. „Dort könnte man inzwischen amerikanische Filialen der

russischen Akademie der Wissenschaften bilden“, meinte er. Eine Rückkehr nach Rußland hielte er für möglich, wenn „das Bedürfnis wächst und die nötigen Bedingungen geschaffen werden“

Danach sieht es nicht aus. Die Wissenschaftler bleiben mittellos - keine hinreichenden Gelder für die Forschung und Entwicklung, zuweilen nicht einmal für die eigenen Einkünfte. Unzufrieden mit der materiellen Lage, dem sozialen Status oder den Wohnverhältnissen sind bei Befragungen regelmäßig mehr als 50 Prozent. Fatalistisch geht man davon aus, daß die russische Wissenschaft langsam verendet.

Irgendwann könnte einfach niemand mehr da sein, über den es sich zu sprechen lohnt. In den vergangenen sechs Jahren schwankte die Zahl der ausreisenden russischen Wissenschaftler und Ingenieure

zwischen 14 000 und 34 000 je Jahr! Experten rechnen in der GUS mit einem Anschwellen der Lawine hochqualifizierter Emigranten auf 200 000 jährlich. Wenn man die UNO-Rechnung anwendet, daß die Abwanderung nur eines Spezialisten für sein Heimat- und Ausbildungsland einen Verlust von 300 000 Dollar bedeutet, ist der direkte Milliardenschaden ersichtlich.

Darin sind Langzeitfolgen nicht einmal einbezogen. Wissenschaft und Forschung werden geschwächt,»die Innovationskraft erlahmt, eine ohnehin schwache Konkurrenzfähigkeit geht gegen Null. Die Zahl der Beschäftigten in wissenschaftlichen Bereichen sank in Rußland bereits zwischen 1986 und 1992 um eine Million. Die ohnehin hauptsächlich mit Handel, kaum mit Produktion und fast gar nicht mit Entwicklung beschäftigte

neue russische Unternehmerschaft bietet auch nicht allen Zuflucht. Trotz geschönter Bilanzen finden sich in den russischen Statistiken unter 100 Arbeitslosen bereits 60 mit akademischer Bildung. Die simple Logik der Betroffenen geht dann sogar noch weiter: Lieber arbeitslos im Westen, als in Rußland beschäftigt.

Auch eine als „Konversion“ ausgegebene Vernichtung des im militärischen Bereich angesiedelten Forschungspotentials hat diesen Trend verstärkt. Es werden Rüstungsexperten „freigesetzt“, die ihre Dienste aller Welt feilbieten. Wissen um nukleare Technologie, hochpräzise Waffen und Erkenntnisse aus der Raumund Luftfahrttechnologie treffen durchaus auf Nachfrage. Kader aus eben diesen Bereichen gelten in Rußland als „Risikogruppen“ An der Spitze liegen dabei Konstrukteure

und Wissenschaftler, Technologen und Produktionsspezialisten.

Die einzige natürliche Begrenzung für den „Abfluß der Hirne“ aus Rußland sieht man hier inzwischen völlig hilflos in der begrenzten Aufnahmefähigkeit des westlichen Arbeitsmarktes. Nach Angaben der internationalen Einwanderungsorganisation kann „der Westen in den nächsten Jahren bis 200 000 führende Wissenschaftler und Spezialisten aufnehmen“ 1994 ging der größte Expertenstrom in die USA und nach Australien, zu den Zielorten zählen weiterhin die BRD, Kanada, Israel und Saudi Arabien. Wenn von solchen Nutznießern dann mal eine Bibliothek oder eine Stiftung mit klingendem Namen nach Rußland zurückgereicht werden, ist das nur der Wurf einer billigen Münze in einen versiegenden Brunnen.

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