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Die Benes-Dekrete stehen in Brno vor Gericht

Pilotprozeß für sudetendeutsche Forderungen? / Viele Tschechen fürchten um Haus und Hof Von JAROSLAVPOLIVKA, Praq

  • Lesedauer: 3 Min.

Rudolf Dreithaler aus Liberec in Nordböhmen erregt in Tschechien Aufsehen. Der tschechische Bürger deutscher Nationalität stellt immerhin die geltende Rechtsordnung der Republik in Frage.

Seine Eltern haben 1945 ihr Haus verloren. Es wurde wie der Besitz anderer sudetendeutscher und ungarischer Familien sowie die Habe von Kriegsverbrechern und Nazikollaborateuren auf der Grundlage des Benes-Dekretes Nummer 108 enteignet. Der damalige bürgerliche tschechoslowakische Präsident Edvard Benes amtierte sowohl in seinem Londoner Exil als auch in der ersten Nachkriegszeit über Dekrete. Sie schufen gemeinsam mit Beschlüssen der alliierten Siegermächte auch den rechtlichen Rahmen dafür, daß nahezu drei Millionen Sudetendeutsche und Tausende ungarische Familien die Tschechoslowakei verlassen mußten. Dreithalers konnten damals bleiben - aber eben nicht mehr in ihrem Haus.

Nach der politischen Wende 1989 begann in Tschechien die Rückgabe einst enteigneten Eigentums. Rudolf Dreithaler forderte nun das Haus seiner Eltern zurück. Das Bezirksgericht in Usti nad Labern wies ihn mit der Begründung ab, Enteignungen nach dem Benes-Dekret 108 seien definitiv Damit will sich der verhinderte Erbe aber nicht abfinden und wandte sich deshalb an das tschechische Verfassungsgericht in Brno. Über einen Prager Rechtsanwalt ficht er die Gültigkeit von Nummer 108 sowie dreier weiterer Benes-Dekrete an.

Die Richter in der mährischen Metropole halten da ein heißes Eisen in den Händen. Einige wollten es gar nicht behandeln. Denn die möglichen

Folgen eines Urteils betreffen ja nicht nur den Bürger Dreithaler, dessen Klage für Präsident Vaclav Havel „ganz und gar legitim und in Übereinstimmung mit den Gesetzen“ ist. Gibt das Verfassungsgericht dem Kläger recht, wird mit einer Lawine weiterer Forderungen gerade durch Sudetendeutsche gerechnet, die seit Jahren ihr „Recht auf Eigentum und Heimat“ einfordern. 17 ähnliche Klagen, wie sie der Mann aus Liberec angestrengt hat, werden angeblich schon konkret vorbereitet.

Es geht dabei nicht nur um Eigentumsrecht und Restitution. Kläger Dreithaler stellt die Gültigkeit der Benes-Dekrete generell in Frage. Sein Rechtsanwalt führt ins Feld, Präsident Benes sei 1938 von seinem Amt zurückgetreten und durch Emil Hacha abgelöst worden, in der Zeit seiner Dekrete also gar kein gewählter Vertreter des Staates gewesen, weshalb seine Verfügungen keine verfassungsmäßige Gül-

tigkeit hätten. Auch das tschechoslowakische Parlament, das die Dekrete zusätzlich absegnete, sei bis 1946 nicht aus regulären Wahlen hervorgegangen. Ergo: Die Benes-Dekrete sind verfassungsrechtlich null und nichtig.

Da ihre Entscheidungen aber weiter wesentlich das rechtliche Fundament des heutigen tschechischen Staates bilden, wäre damit für die Tschechen die eben gewonnene Rechtssicherheit dahin. Eben deshalb, meint der Vorsitzende des Verfassungsgerichtes, Zdenek Kessler, müsse man sich mit der Klage befassen.

Der Fall - ein Urteil wird erst im Herbst erwartet - erhitzt hier natürlich die Gemüter Daß der Kläger deutscher Nationalität ist, gibt der Sache noch zusätzliche Brisanz. Die Furcht, heutige tschechische Besitzer ehemals sudetendeutscher Häuser und Grundstücke könnten durch ein exemplarisches Verfassungsgerichtsurteil plötzlich um Haus und Hof

kommen, ist latent. Auswirkungen auf die laufende Privatisierung der Wirtschaft dürften sich nahezu unmittelbar ergeben. Investoren und potentielle Käufer von Immobilien und Grundstücken, die einst in sudetendeutschem Besitz waren, werden häufig die Entscheidung der Verfassungsrichter abwarten. Was Präsident Havel zu dem ahnungsvollen Eingeständnis veranlaßte, „daß wir uns eine solche Entscheidung und vor allem ihre Folgen nur schwer vorstellen können.“

Die linke Tageszeitung „Rüde Pravo“ machte ihren Lesern dagegen Mut. Sollte das Verfassungsgericht Rudolf Dreithalers Klage zurückweisen, erläutert das Blatt, „müßte es sich mit anderen Anlässen in dieser Sache gar nicht mehr befassen.“ Die Entscheidung könnte „als Präzedenz für weitere Fälle dienen“. Dreithaler aber ist gewillt, für den Fall der Ablehnung das Europagericht in Strasbourg anzurufen.

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