US-Forscher behaupten: Sexuelle Identität wird nicht allein durch Hormone geprägt
Martin Koch
Lesedauer: 5 Min.
Am Anfang ihres Lebens sind alle Menschen Zwitter. Obwohl bereits bei der Verschmelzung von Eizelle und Spermium das Kerngeschlecht eines Individuums festgelegt wird (XX-Chromosomenpaar: weiblich, XY-Chromosomenpaar: männlich), trägt jeder Embryo bis zur sechsten Schwangerschaftswoche Anlagen für beide Geschlechter in sich. Erst danach reifen entweder Hoden oder Eierstöcke, die Sexualhormone ausschütten und so die Entwicklung zum Jungen oder Mädchen steuern.
Dabei kommt es nicht selten zu Störungen. Neuere Untersuchungen haben zum Beispiel ergeben, dass die Frage »Junge oder Mädchen?« bei einem von 2000 Neugeborenen nicht eindeutig zu beantworten ist. Dieses Phänomen, das Mediziner als Intersexualität bezeichnen, stößt in unserer auf zwei Geschlechter fixierten Gesellschaft auf wenig Akzeptanz. Deshalb werden Kinder mit intersexueller Konstitution frühzeitig operiert, um aus ihnen ein »richtiges« Mädchen oder einen »richtigen« Jungen zu machen. Außerdem soll durch einen möglichst frühen Eingriff jede Erinnerung an die Geschlechtsprägung gleichsam ausgelöscht werden.
Mit den Ursachen und Folgen menschlicher Intersexualität beschäftigt sich in Deutschland seit zehn Jahren eine Forschergruppe an der Medizinischen Universität Lübeck. »Intersexualität hat nichts mit Homo- oder Transsexualität zu tun«, erklärt deren Sprecher Olaf Hiort: »Transsexuelle sind biologisch eindeutig Mann oder Frau, bei ihnen ist jedoch die Geschlechtsidentität gestört. Intersexuelle dagegen haben eine echte biologische Auffälligkeit. Ansonsten sind sie Menschen wie du und ich. Jedem von uns ist schon ein Mensch mit Intersexualität auf der Straße begegnet, ohne dass wir es bemerkt hätten.«
Ursachen für diese Variante der Geschlechtlichkeit gibt es viele, eine davon ist die so genannte Androgenresistenz. Dabei bildet ein genetisch männliches Individuum im Mutterleib zwar Hoden aus, die männliche Geschlechtshormone (Androgene) produzieren, diese bleiben jedoch wirkungslos, da die entsprechenden Rezeptoren auf den Körperzellen fehlen. Es wird deshalb ein Kind geboren, das seinen inneren Geschlechtsorganen nach ein Junge, seiner äußeren Erscheinung nach hingegen ein Mädchen ist.
Lange war unter Medizinern die Meinung verbreitet, dass intersexuelle Kinder ohne größere Schwierigkeiten in jenes Geschlecht hineinwachsen, das ihnen Chirurgen nach der Geburt gewissermaßen auf den Leib schneidern, und welches ihre Eltern durch eine entsprechende Erziehung sozial verstärken. Da verweiblichende Operationen in der Regel zu besseren kosmetischen und funktionellen Ergebnissen führen als vermännlichende, verlassen heute ungefähr 90 Prozent der operierten Babys die Klinik als Mädchen. »Ob das auf Grund der hormonellen Situation jedoch immer die richtige Entscheidung ist, lässt sich bezweifeln,« betont die Lübecker Kinderneurologin Ute Thyen. Denn häufig kommt es nach der Operation zu Komplikationen in der Persönlichkeitsentwicklung, wenn das fremdbestimmte Geschlecht nicht zu den individuellen Empfindungen passt. Aus diesem Grund lassen sich intersexuelle Frauen, die lieber als Mann leben wollen, später erneut operieren. Manche Ärzte halten es daher für ratsam, so lange auf die chirurgische Formung des Geschlechts zu verzichten, bis klar geworden ist, ob der betreffende Mensch sich in Richtung Frau oder Mann entwickelt.
Denn bis heute gibt es keine Möglichkeit, diesen Prozess bereits im Babyalter zu prognostizieren. Das könnte sich nach einem Bericht des britischen Fachjournals »Nature« (Bd. 427, S. 390) in Zukunft ändern. Auch wenn die neuen Untersuchungen sich vorrangig auf Tiere stützen, widersprechen sie grundsätzlich der herkömmlichen Theorie der Sexualentwicklung, derzufolge sämtliche Differenzen zwischen männlichen und weiblichen Gehirnstrukturen allein auf hormonelle Einflüsse zurückzuführen sind.
Im letzten Jahr erst haben Biologen um Arthur Arnold von der University of California die sensationelle Entdeckung gemacht, dass Zebrafinken beide Geschlechter in sich vereinen. Die linke Körperhälfte der Vögel ist genetisch weiblich und enthält einen Eierstock, während die rechte Hälfte genetisch männlich ist und einen Hoden aufweist. Im Gehirn dagegen sollten sich nach der herkömmlichen Theorie keine geschlechtlichen Unterschiede herausbilden, da Hormone auf den ganzen Körper wirken und nicht zwischen links und rechts unterscheiden können. Um dies nachzuprüfen, untersuchte Arnold zwei Hirnregionen, die das Singverhalten der Vögel kontrollieren. Dabei stellte er fest, dass diese Regionen auf der rechten Seite erheblich größer waren als auf der linken, was den Schluss erlaubt, dass auch im Gehirn genetische Einflüsse unabhängig von Hormonen auf zellulärer Ebene wirksam sind.
Um diese These empirisch zu untermauern, hat Arnolds Kollege Eric Vilain die Genaktivität in den Gehirnen von weiblichen und männlichen Mäuseembryonen vermessen. Ergebnis: 51 Gene zeigten schon vor der Hormonausschüttung eine unterschiedliche Aktivität und formten auf diese Weise weibliche und männliche Hirnstrukturen. Ob auch bei Menschen die sexuelle Identität in den Genen steckt, wie der »Nature«-Artikel nahe legt, ist eine offene Frage, die sich in dieser Zuspitzung wohl kaum beantworten lässt. Denn wie nahezu alle menschlichen Eigenschaften wird auch die sexuelle Identität durch biologische und soziokulturelle Einflüsse geprägt. Ohne dies zu bestreiten, hat Vilain die Hoffnung, durch einen Gentest künftig feststellen zu können, ob ein Neugeborenes mit intersexueller Konstitution sich eher in die weibliche oder männliche Richtung entwickeln wird. Das könnte den Betroffenen komplizierte Nachoperationen ersparen, weswegen Intersexuelle in den USA Vilains Forschungen durchaus mit Wohlwollen verfolgen.
Allein an der Tatsache, dass intersexuelle Menschen in unserer Gesellschaft oft benachteiligt werden, ändern die neuen Erkenntnisse wenig, da sie weiterhin das Paradigma stützen, Intersexualität sei eine Krankheit, die unbedingt einer hormonellen oder chirurgischen Behandlung bedürfe. »Jeder einzelne Mensch kommt mit seinem individuellen Geschlecht zur Welt und hat ein Recht darauf, dass dies auch respektiert wird«, fordert Helma Katrin Alter von der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität. In einem Punkt zumindest kommt auch Vilain diesem Anspruch nahe. Er möchte den chirurgischen Eingriff zur endgültigen Prägung des Geschlechts solange hinausschieben, bis die Betroffenen selbst über dessen Durchführung frei entscheiden können.
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