Ist das Zeitalter der Sozialdemokratie zu Ende?
Wie kann angesichts der großen Katastrophen unseres Jahrhunderts - zwei Weltkriege, Faschismus, Stalinismus, die großen Wirtschaftskrisen und die neuen Existenzbedrohungen (Umwelt und Hochrüstung) - vom „Ende des sozialdemokratischen Zeitalters“ (Ralf Dahrendorf) gesprochen werden? Diesen großen Widerspruch hat Willy Brandt der SPD in seiner Abschiedsrede als Parteivorsitzender 1987 als zu lösende Aufgabe in , das Pflichtenheft geschrieben. Seitdem ist der Niedergangsprozeß der westeuropäischen Sozialdemokratie keineswegs gestoppt worden, sondern weiter vorangeschritten: Das Ende der Sozialistischen Partei Italiens ist nur die (mafiose) Spitze des Eisbergs. Auch in den einstigen staatssozialistischen Ländern ist die Resonanz der sozialdemokratischen Parteien schwach; und auch die ostdeutsche Sozialdemokratie klagt über unzureichende soziale Verankerung und manifeste organisatorische Probleme.
Das kann nicht verwundern, denn heute ist unklarer als je zuvor, wie soziale Bürgerrechte, Chancengleichheit und demokratische! Beteiligung in einer Zeit der Massenarbeitslosigkeit, wachsender sozialer Gegensätze und maßloser Bereicherung der Besitzenden herzustellen sind. Auf dem SPD-Parteitag in Wiesbaden wies Oskar Lafontaine eindringlich auf die in sozialdemokratischer Perspektive ungelösten Probleme von Massenarbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise hin: „Wir dürfen nicht leichtfertig darüber hinwegsehen, daß sozialdemokratische Regierungen im gesamten Europa mit diesem Ziel angetreten sind und an diesem Ziel gescheitert oder beinahe gescheitert sind.“
Ein Blick auf die west- und nordeuropäischen Verhältnisse zeigt, daß die Politik der Abschottung durch eine massive Beschneidung des Asylrechtes, die Zustimmung zur Militarisierung der Außenpolitik, der Verzicht auf die Forderung nach Vollbeschäftigung und die Beteiligung am Abbau des Sozialstaates kein Privileg der deutschen Sozialdemokratie sind. Es wäre allerdings ein schwerer politischer Fehler, die Sozialdemokratie gleichsam ins neokonservative Lager abzuschreiben. Jeder weitere Schritt der sozialen Demontage und der Einschränkung von demokratischen Rechten stellt eine starke Belastungsprobe für die sozialdemokratische Partei und ihr gesellschaftliches Umfeld dar.
Die sozialdemokratische Orientierung hat an Anziehungskraft eingebüßt, an Wirksamkeit und“ Energie verloren. Der Verzicht auf Ein-
griffe in den kapitalistischen Akkumulationsprozeß und die Beschränkung auf eine Politik der gesellschaftlichen Nachfragesteuerung (Fiskal- und Umverteilungspolitik) wesentlich zwischen den verschiedenen Schichten der Lohnabhängigen eröffnet keine Perspektive mehr auf eine neue Prosperitätskonstellation mil sozialen Fortschritten in der Breite der Gesellschaft. Die Reaktivierung einer schwach dosierten antizyklischen Nachfragepolitik auf europäischer Ebene, wie sie von Teilen der westeuropäischen Sozialdemokratie gefordert wird, wird eher Enttäuschung hervorrufen, denn effektive Fortschritte bei der Lösung der Beschäftigungsnot bringen.
Die europäische Sozialdemokratie hat keine Konzeption für die Rekonstruktion von Ökonomie und sozialer Sicherheit; sie hat sich auf die Unterstützung eines Spar- und Konsolidierungskurses eingelassen. Entgegen dem einstigen Versprechen- s Mehr-Demokratie wagen“ sind die sozialdemokratischen Parteien längst auf dem Weg, Teil der Koalition zur Beschränkung sozialer und individueller Rechte zu werden.
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