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  • Kultur
  • Zum Tode des russischen Schriftstellers Leonid Leonow

Auf der Suche nach einem Modell des Weltgebäudes

  • KARLHEINZ KASPER
  • Lesedauer: 6 Min.

Foto: dpa

Am 8. August starb Leonid Leonow in Moskau im Alter Von 95 Jahren. Er war der letzte der großen russischen Erzähler, die sich schon in den 20er Jahren weit über die Grenzen ihres Landes hinaus einen Namen machten. Leonows Prosa war in der Anthologie „30 neue Erzähler des neuen Rußland“ präsent, die im Malik- Verlag erschien. „Wetterleuchten“ hieß der Band, den der Emigrant Roman Gull 1926 in Berlin herausbrachte. Paul Zsolnay druckte zwischen 1926 und 1930 drei Romane - „Die Bauern von Wory“, „Der Dieb“ und „Aufbau“ Gull führte den literarischen Stammbaum Leonows auf Dostojewski und Remisow zurück, bestätigte dem jungen Schriftsteller aber auch, daß er eine unverkennbare eigene Handschrift besitze.

Leonows Vater war ein autodidaktisch gebildeter Bauerndichter Der Sohn wuchs bei Verwandten auf dem Lande und bei seinem streng gläubigen Großvater im Moskauer Kaufmannsviertel auf. Schon die Erzählung „Wetterleuchten“ (1922) ließ erkennen, daß Leonow d^s dörfliche Rußland besonders gut kannte. Altgläubige Bauern mit einer haus-

backenen Lebensphilosophie, Mönche und Narren in Christo sind seine Helden. Den Bolschewiki stehen sie mißtrauisch gegenüber, doch das Bild der Kommune, das die „Lederjacken“ entwerfen, lockt sie nicht weniger als die biblische Botschaft vom Paradies. In dem Roman „Die Bauern von Wory“ (1924) warnt der Autor vor den Demagogen, die den Menschen versprechen, ihnen das Glück in den Schoß zu legen. Ein Bauer erzählt die Geschichte vom Zaren Kalafat. Der brüstet sich damit, daß er die Welt mit Hilfe der Geometrie regieren, jedem Fisch, Grashalm und Stern eine Nummer geben und seinen Stempel aufdrücken werde. Er läßt einen Turm bis an den Himmel bauen, doch als er ihn besteigen will, setzt sich die Natur zur Wehr und vereitelt die mathematisch exakten Weltherrschaftspläne Kalafats.

Den Roman „Der Dieb“ (1927) betrachtete Leonow bis in die jüngste Gegenwart als sein wichtigstes Buch, obwohl er es trotz der radikalen Bearbeitung von 1959 nie richtig zum Abschluß bringen konnte. Das mag an der kaum realisierbaren Zielstellung liegen, das Wesen des Menschen zu ergründen. Die Revolution hat-

te den Menschen seines „Ornaments“ entkleiden wollen, doch er sei sehr schnell in neue Verkleidungen geschlüpft, heißt es im Text. Und dem Schriftsteller Firsow, einer Romangestalt, hinter der sich der Autor verbirgt, gelingt es nicht, die „verborgenen Wurzeln des Menschen“ aufzuspüren.

Das gilt vor allem für die widersprüchlichste Figur des Romans, den Kavalleriekommissar Dmitri Wekschin, der in der Zeit der Neuen Ökonomischen Politik zum Anführer einer Diebesbande wird. Seit dem Augenblick, als Dmitri dem weißen Offizier, der sein Pferd tötet, mit dem Säbel den Arm abgehackt hat, ist etwas in ihm zerbrochen. Er kann die Freiheit, die er in der Revolution“ gefunden hat, nicht nutzen, stellt sich gegen alle. Leonow will Dmitri nicht verurteilen, sieht in seinem Verhalten etwas, was ihn an Raskolnikow und die vielbeschworene „russische Seele“ erinnert.

Als 1953 der Roman „Der russische Wald“ erschien, wurde Leonow von einem Teil der sowjetischen Kritik als Bahnbrecher der „Tauwetter-Literatur“ gefeiert. Die kontrastreiche Beziehung zwischen dem Forstmann Wichrow und

seinem Gegenspieler Grazianski, dessen Karriere ausschließlich auf demagogischen Phrasen aufgebaut ist, hob sich von der allgemeinen Konfliktlosigkeit der Literatur der Stalinzeit sichtlich ab. Doch die Zeit hat gezeigt, daß Leonows Versuch, das tragische Schicksal der russischen Intelligenz zu gestalten, an den weltanschaulichen Kompromissen des Autors gescheitert ist.

Fast vier Jahrzehnte lang lebte Leonow das Leben eines Patriarchen der Sowjetliteratur In den Interviews, die er selten gab, war von seiner Kakteensammlung die Rede, seltener von seiner schriftstelleri-

schen Arbeit. Seit mehr als 20 Jahren werden Fragmente eines Romans publiziert, der als Leonows Vermächtnis gilt. Dieser Roman soll jetzt unter dem Titel „Die Pyramide“ in den Beilagen zur Moskauer Literaturzeitschrift „Nasch Sowremennik“ veröffentlich werden. Die Wahl des Publikationsorgans macht deutlich, daß Leonow sich dem konservativen Flügel der gegenwärtigen russischen Literatur verbunden fühlte. Trotzdem kann man auf das Alterswerk gespannt sein.

Was wir bisher kennen, ist ein „philosophischer“ Roman in der Tradition Dostojewskis, der sich das Ziel stellt, eine Antwort auf Menschheitsfragen zu geben. Ein Student steht vor der Entscheidung, ob er das Leben nach den Lehrbüchern honoriger Wissenschaftler oder „nach der Version Dymkows“ verstehen soll. Dymkow ist ein Außerirdischer, vielleicht sogar ein „Engel“, weil er mit der Naivität eines Kindes und ohne jede ideologische Voreingenommenheit den Entwurf eines Weltgebäudes vorlegt. Ob wir nach seinen irrationalen Vorstellungen oder nach den streng rationalen Plänen der Wissenschaftler leben werden, bleibt jedoch ungewiß.

Am Abend vor der Diplomverteidigung das Entree zur ersten Personalausstellung in einer kleinen engagierten Galerie mitten im Zentrum der Hauptstadt - glücklicher kann ein Start ins freie Berufsleben für einen jungen Maler nicht ausfallen. Philipp Schack, Absolvent der Berliner Kunsthochschule, nimmt die Blumen seines Professors Wolfgang Peuker strahlend in Empfang. Gemeinsam mit Saskia Wenzel, die 1992 ihr Studium in Weißensee abschloß, bestreitet er „Debüt Zwei“ in der Galerie Leo. Coppi am U-Bahnhof Spittelmarkt. Ein heiteres sommerliches Intermezzo, bei dem Farbkontraste spannungsreich über Papiere und Leinwände fluten.

Philipp Schack schlägt dabei die volleren, erdigen Töne an. Seine großformatigen Gemälde scheinen auf den ersten Blick streng kantig gebaut. Kargheit im Interieur wie in den Farben bewirken Konzentration. Beim näheren Betrachten stößt man im Bildinneren jedoch auf eine Fülle zeichenhafter Konturen, die Figurationen von skurrilem Reiz bilden. Azteke, Narren, spanischer Tänzer, kleiner Prinz - die klassischen Künstlermotive in origineller Gestalt. Dunkles Blaugrünbraun kontrastiert mit pikant gewählten Weiß-, Gelb- bzw Rosatönen. Ein reizender, türkisleuchtender Stuhl ist einer nicht ganz so hübschen Frau beigestellt. Der spanische Tänzer entpuppt sich als militante Marionette usw Bewußt abgesetzt von diesen wohldurchdachten Kompositionen sind in offenen Formen lichtdurchflutend gemalte Gouachen des jungen Berliners, dessen Arbeiten in diesem Jahr auch im Bundes-

wettbewerb der Kunsthochschulen in Bonn gezeigt werden.

Während Philipp Schack in Spuren der Berliner Schule wandelt oder, wie es bei Lothar Lang heißen würde, „im kulturvollen Peinturismus sinnlicher Reflexion“, ist Saskia Wenzel eine emotional ungebremste, durch und durch poe-tische Erzählerin. In hellen, flimmernden Farbmischungen bannt sie erregende Märchenund Traumwelten als psychologische Geflechte aufs Papier Ohne Zweifel begibt sie sich in die Anfang der 80er Jahre im Osten der Stadt wiederbelebte aufgerissene expressive Linie der Malerei. Ungezwungen geht das Auge des Betrachters spazieren in diesen an Erfindungskraft reichen Visionen zwischen Realem und Irrealem, zwischen Tag und Nacht. Mädchen mit Ziege oder einer roten Katze, Nachtgespenster verweisen auf die ungeheure Fabulierlust der aus einem musischen Wittenberger Hause stammenden Malerin, deren Lehrer Dieter Goltzsche und Hans Vent im Farblichen und Zeichnerischen das Ihre mit auf den Weg gaben.

Erfreulich, daß die Kunstakademie in Weißensee nach Jahren ziemlicher Bedeutungslosigkeit im Bereich malerisch-grafischer Innovation und Entdeckungen - im Vergleich mit Dresden oder Leipzig - nun offenbar wieder originell, kraftvoll malende Debütanten entläßt. Saskia Wenzel und Philipp Schack muß man unbedingt dazu rechnen.

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