Nach der Entzifferung des gesamten Erbguts von drei Säugern rückten auf dem Berliner Welttreffen der Humangenetiker die offenen Fragen wieder in den Vordergrund
Steffen Schmidt
Lesedauer: 6 Min.
Welchem Erbgut wendet sich eine australische Forscherin nach der Entzifferung des menschlichen Genoms wohl zu? Dem des Kängurus natürlich. Doch was mag dieses Beuteltier auf einer Jahrestagung der internationalen Human Genome Organisation (HUGO) zu suchen haben? Genetische Ähnlichkeiten sind schließlich nur wenige auszumachen. Das stimmt, pflichtet Jenny Graves von der Australischen Nationaluniversität in Canberra bei. Doch eben wegen des Abstands von 100 Millionen Jahren Evolution zwischen beiden Arten lohne der Vergleich. Zudem - so die australische Forscherin - biete das Beuteltier einige Untersuchungsmöglichkeiten, die bei echten Säugetieren nicht zur Verfügung stehen. Immerhin krieche das Neugeborene in einem Stadium in den Beutel der Mutter, wo anatomisch noch nicht einmal das Geschlecht festgelegt ist. Ein Teil der Embryonalentwicklung sei also direkt beobachtbar und unterliege viel stärker Umwelteinflüssen als bei Mensch, Ratte oder Maus. Insgesamt habe man auf den acht Chromosomen des Kängurus bereits 12 Gene identifizieren können, die auch der Mensch besitzt. Zudem interessieren sich Milchwirtschaft und Viehzüchter für die Ergebnisse. Denn der hüpfende Zweibeiner sei gegen eine große Zahl von Erregern des fünften Kontinents resistent, die den eingeführten Haustieren schwer zu schaffen machen. Und die Känguru-Mutter könne etwas, was Milchproduzenten interessant erscheine: Sie könne nach Bedarf zwischen dreierlei Milchsorten umschalten.
Doch in der Hauptsache ging es auf dem viertägigen Treffen von rund 800 Genforscher aus aller Welt in dieser Woche in Berlin natürlich um den Menschen. Und da machte sich nach der Euphorie vor einem Jahr, als das menschliche Erbgut endlich im wesentlichen sequenziert war, doch inzwischen Ernüchterung breit. Wurden die ersten komplett entzifferten Chromosomen noch extra auf Pressekonferenzen vorgestellt, so war der Abschluss der Arbeit an den Chromosomen 13 und 19 in der vergangenen Woche nur noch Routine. Schon das Motto der Eröffnungsveranstaltung am vergangenen Sonntag lautete ganz bescheiden: »What's next in genome research?« (Was kommt als nächstes in der Genomforschung?).
Dabei herrscht an offenen Fragen absolut kein Mangel. Nachdem die Sequenzierautomaten ein Buch mit rund drei Milliarden Genbuchstaben - die Abfolge der vier Basen im Erbmolekül DNA - produziert haben, geht es nun daran, die Sprache des Buches zu verstehen. Dabei besteht ein Hauptproblem schon darin, dass die wahrscheinlich 25000 bis 30000 Gene des Menschen nur fünf Prozent des »Textes« ausmachen. 95 Prozent sind nach bisheriger Kenntnis Nonsens.
Ob diese »genetischen Wüsten«, die sich recht ungleich über die einzelnen Chromosomen verteilen, tatsächlich funktionslos sind, und warum sie dann dennoch über Jahrmillionen weitervererbt wurden, ist allerdings völlig unklar, räumt Eddy Rubin ein. Der Genforscher von der Universität von Kalifornien in Berkeley beschäftigt sich schon länger mit diesen anscheinend funktionslosen Teilen des Genoms. Bei Mäusen hat sein Team auch schon getestet, was passiert, wenn solche Abschnitte aus dem Erbgut entfernt werden. Laut Rubin konnten keine Unterschiede in den folgenden Generationen der kleinen Nager festgestellt werden. Verwunderlich ist nur, das ein Vergleich des seit kurzem entzifferten Rattengenoms mit dem von Maus und Mensch nicht nur in 40 Prozent der Sequenzen übereinstimmt, sondern dass auch bei diesen gemeinsamen Abschnitten wieder der größte Teil derartiger »Genmüll« ist. Danach befragt, ob eine solche Stabilität über weit auseinander liegende Tierarten nicht doch ein Hinweis auf eine Funktion sein könnte, wollte Rubin sich nicht festlegen. Es könne natürlich sein, meinte er, dass das Fehlen jener Bausteine irgendein unbekanntes Krankheitsrisiko von 1:100000 auf 1:10000 erhöht. Doch so etwas sei mit derzeitigen Mitteln kaum festzustellen. Hans Lehrach vom gastgebenden deutschen Humangenomprojekt fügte noch hinzu, dass die ebenfalls zu den Säugern zählenden Fledermäuse bei weitem weniger funktionslose Abschnitte im Erbgut besäßen. Ganz ohne Einfluss scheint der vermeintliche Müll aber nicht zu sein. Denn immerhin gibt es einige genetisch bedingte Erkrankungen, über deren Ausbruch und Schwere die Zahl der Wiederholungen bestimmter solcher inhaltsloser Phrasen entscheidet.
Die nun eingeläutete Suche nach der Funktion der einzelnen Gene beschreitet viele Wege. Da ist zum einen der Vergleich mit Modellorganismen von der Hefezelle bis zum Schimpansen. Zum anderen ist der Weg über die so genannte »knock out«-Technik, bei der vermutete Gene in Mäuse-Stammzellen stillgelegt werden und an der entstehenden Maus mit dem Gen-Defekt die Wirkung untersucht wird.
Einen weiteren Weg, der auf den Umweg über das Tier zumindest teilweise verzichtet, stellte Leena Peltonen von der Universität Helsinki vor. Mit Hilfe möglichst vollständiger Gen- und Krankendaten über mehrere Generationen in einer relativ kleinen und isolierten Population, wie es das finnische Volk ist, will sie auch komplexen Volkskrankheiten wie Bluthochdruck, Milchzucker-Unverträglichkeit, Multiple Sklerose oder Schizophrenie auf die Spur kommen. Ähnliche Bestrebungen mit kommerziellen Partnern gibt es in Island und Estland. Allerdings warnt Peltonen vor allzu viel Optimismus. Die Forschung verfüge erst seit 20 Monaten über die Daten des menschlichen Genoms. Es werde wohl Jahrzehnte dauern, bis es zu medizinisch nutzbaren Ergebnissen komme.
Über die weitere Ausrichtung der Forschung ist sich die Wissenschaftlergemeinde allerdings keineswegs einig. So kritisierte Maynard Olsen von der University of Washington in Seattle die einseitige Orientierung auf Krankheiten. Die Suche nach Krankheitsgenen müsse sich einordnen in ein besseres Verständnis unserer ganzen Biologie. Zuerst müssten wir verstehen, wie die individuellen Unterschiede der Menschen genetisch zu Stande kommen, meint Olsen. Nur ein Tausendstel der Gene sei individuell verschieden. Doch womöglich entscheide nur ein Bruchteil davon über individuelle Unterschiede und die Anfälligkeit für Krankheiten. Viele dieser Unterschiede seien vermutlich im Laufe der Evolution als »neutrale Variation« entstanden. Das sind Veränderungen, die keine Vor- oder Nachteile für die Fortpflanzung der Art mit sich bringen. Einige der bekannten variablen Sequenzen seien weniger als 500000 Jahre alt, also bereits Teil der menschlichen Evolution.
Manche dieser Fragen könnte auch der Vergleich mit den Menschenaffen beantworten. So besitzt etwa der Schimpanse, dessen Genom inzwischen ebenfalls als Arbeitsskizze vorliegt, weitgehend das gleiche Erbgut. Rund 1,2 Prozent der Gene unterscheiden sich. Dennoch liegen Welten zwischen beiden Arten. Das sei nicht zuletzt auf Unterschiede in der Steuerung der Umsetzung der genetischen Informationen zurückzuführen, erläuterte Svante Pääbo, Direktor am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Ganz sicher beruhe der Unterschied auf der Kombination mehrerer wesentlicher Gene, meint er. So sei es zwar eine schöne Hypothese der Forscher um den Chirurgen Hansell Stedman von der University of Pennsylvania, dass ein Genunterschied auf Chromosom 7, der für schwächere Kaumuskeln beim Menschen sorgt, auch Platz im Schädel für ein größeres Hirn schaffte, doch keine ausreichende Erklärung. Mit Sicherheit sei auch ein Gen beteiligt, das durch eine krankhafte Verkleinerung des Hirns bekannt wurde. Zudem wies Pääbo auf eine bemerkenswerte Entwicklung von Nagern über Affen bis zum Menschen hin, die möglicherweise ebenfalls mit dem Sprung zum Menschen zu tun hat. Es habe nämlich der Geruchssinn im Laufe der Säugerevolution abgenommen, während das Farbsehen sich verbessert hat. Diese Verschlechterung des Geruchssinns zu Gunsten des Sehens gebe es sowohl in Afrika bis hin zum Menschen, als auch in Südamerika bei den nur dort heimischen Brüllaffen.
Es bleiben also bei der Suche nach Krankheiten wie bei der Aufklärung evolutionärer Zusammenhänge noch eine Fülle offener Fragen, die die Genforscher noch lange beschäftigen werden.
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