Er war bei einer 72-Stunden-Übung, unser Junge In der Letzlinger Heide. Sie waren ziemlich kaputt, noch einen Tag mussten sie durchhalten. Am Abend war Ruhe befohlen worden. Doch es war heiß, manche Soldaten lagen im Panzer, da war es eng und stickig, andere lagerten auf dem Fahrzeug, Frank hatte sich neben den Panzer gelegt. Das war in Ordnung, nicht verboten, das ist üblich, sagen alle...« Herbert Kuhfuß berichtet mechanisch, langsam formuliert er Halbsätze, sein Blick scheint festgeklemmt an der Tischplatte. »Ein Sani-Panzer war noch unterwegs, die Besatzung sollte sich beim Kompaniechef zurückmelden. Der Oberleutnant war auf dem Panzer, auf dem unser Junge als Richtschütze fuhr.«
Es war Nacht. Die Benutzung von Lichtquellen, so der Bürokratentext der Untersuchung, war allgemein untersagt. Die Gefechtsübung sollte so realistisch wie möglich sein. Der Sanitätspanzer sei gegen 23 Uhr gekommen und ziemlich dicht an den anderen Panzer herangefahren, sagen Zeugen. Als er sich wieder entfernte, um an einem befohlenen Ort zu parken, muss er den schlafenden Frank Kuhfuß überrollt haben. »Obwohl«, so wirft dessen Mutter ein, »ein Einweiser vorweg gegangen ist. Angeblich. Er sollte darauf achten, dass der Panzer nicht gegen schwere Steine fährt, die die Ketten beschädigt hätten.«
Andrea Kuhfuß bricht in Tränen aus. Ihr Mann sitzt daneben, sein Kopf sinkt auf die Brust. Der Unfall war im Mai 2000, seither weiß er, dass kein Trost helfen kann. Die Fröhlichkeit ist aus dem Haus, schlagartig seit jenem Morgen, als ein Bundeswehr-Auto mit einem betont ernst blickendem Offizier vor dem Haus gehalten hat. Jahrelang konnte seine Frau nicht mehr zur Arbeit gehen, sie schleppte sich zu Ärzten. Oft genug musste aber auch der Notarzt kommen, dann verordnete man ihr eine Kur, seit gut einer Woche versucht sie, wieder Tritt zu fassen. Drei Stunden am Tag als Steuergehilfin.
Frank hatte so viel vor. Gleich nach dem Abitur zog man ihn ein. »Einen Tag vor Übungsbeginn habe ich seine Bewerbungsunterlagen für die Fachhochschule Stralsund in den Briefkasten gesteckt«, erinnert sich Andrea Kuhfuß. Der Junge habe Maschinenbau studieren wollen »und vielleicht hätte er ja unsere Firma übernommen«, sagt sein Vater. Seit 1988 betreibt der einen Metallbaubetrieb - Schlüssel, Tore, Gartenzäune - in Neu Plestlin. Das ist ein Zehn-Häuser-Flecken unweit von Jarmen in Mecklenburg-Vorpommern. Die großen Ereignisse streifen den Ort nicht einmal. Und dann das Frank geht zum Bund und er kommt nicht wieder.
Die beiden sitzen in ihrem Wohnzimmer und sind verzweifelt. Es hat nach offenbar sehr lässigen Ermittlungsversuchen einen Prozess gegeben, bei dem die zahllosen Schlampereien und Widersprüchlichkeiten im Dienstablauf des Panzergrenadierbataillons 411 aus Viereck gar nicht zur Sprache gekommen sind. Der als Kompaniechef eingesetzte Oberleutnant hat seinen Strafbefehl akzeptiert und bezahlt. Für ihn ist der Fall erledigt. Nicht ein einziges Wort hat er an die Eltern seines getöteten Untergebenen gerichtet. Und Franks Kameraden? Sie schwiegen lieber, immerhin hatte die Richterin ihnen eine moralische Mitschuld nahe gelegt.
Der Einweiser, ein zum Panzerkommandant ernannter Wehrpflichtiger, der nach dem Verfahren als Zeitsoldat übernommen wurde, bekam einen Freispruch. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft. Man hat vor Gericht die schwere Kindheit des damals 19-Jährigen ausgebreitet: Kinderheim, Schulabbruch, gemeinschaftlicher Diebstahl, Notrufmissbrauch, Drogengeschichten. Franks Eltern können den Freispruch nicht akzeptieren. Sie legten als Nebenkläger Berufung ein.
Am kommenden Montag ist die Verhandlung vor dem Landgericht. Sie haben wenig Hoffnung auf ein Urteil, das ihren Vorstellungen von Gerechtigkeit entspricht, denn auch der Wehrbeauftragte des Bundestages, Willfried Penner, hat den Fall Kuhfuß mit einem kurzen Antwortbrief als erledigt abgeheftet.
Unfälle, auch tödliche, gehören zum Militär, sagen die Militärs. Penner hat für das vergangene Jahr 39 vermutliche Selbstmorde und jeweils sieben Unfall-Tote im In- und Ausland addiert. Insgesamt kamen bei den bisherigen Auslandsverwendungen der Bundeswehr 56 Bundeswehrangehörige ums Leben, erfuhr die PDS-Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch auf Nachfrage. Nur wenige von denen hat der »Feind« auf dem Gewissen. »Alle Vorgänge«, so heißt es in Penners aktuellem Jahresbericht, »werden dahingehend beobachtet, dass die erforderliche Aufklärung nach Recht und Gesetz geschieht.« Der Satz ist ein Hohn! Es gibt eine Vielzahl von Fällen, in denen vertuscht wurde, was nur zu vertuschen ist. Vermutlich um zu vermeiden, dass alltägliche Schlamperei und Disziplinlosigkeit öffentlich wird. So wie im Fall Frank Kuhfuß, der sich auf dem angeblich modernsten Truppenübungsplatz Europas ereignet hat.
In vielen Fällen versuchen Bundeswehrführung und Staatsanwaltschaften im vertraulichen Miteinander zunächst die Opfer schuldig zu sprechen. Wenn das nicht gelingt, werden unmittelbare Vorgesetzte mit einem Strafbefehl und einem Maulkorb belegt. Hinterbliebene werden - wenn überhaupt - mit Mindestzahlungen abgefertigt. Beispiele aus jüngster Zeit: Am 6. März 2002 kenterte ein Beiboot der britischen Fregatte »Cumberland«. Zwei Matrosen der deutschen Fregatte »Mecklenburg-Vorpommern« starben. Die Oldenburger Staatsanwaltschaft und die Marineführung in Wilhelmshaven spielten den Fall mit der »Selbst-Schuld«-Methode herunter. ND hat mehrfach berichtet. Nur weil es dem Vater von Samuel Scheffelmeier, das ist einer der Toten, gelungen ist, die Medien zu interessieren, hatte sein Klageerzwingungsverfahren einen - scheinbaren - Erfolg. Das Verteidigungsministerium setzte den Kommandanten der deutschen Fregatte auf die Anklagebank, hoffend, dass man so nicht länger über die untauglichen Rettungsanzüge der deutschen Marine, über die nicht einsatzfähigen Motorrettungsboote der deutschen Fregatten und über die chaotischen Führungssysteme des deutschen Militärs spricht.
Schwamm drüber? Schwamm drüber! Das Verfahren wird eingestellt, wenn der ehemalige Kommandant der »Mecklenburg-Vorpommern« 2400 Euro auf den Tisch legt. Doch der (noch-)Fregattenkapitän Frank Menge fühlt sich plötzlich als beauftragter Sündenbock nicht mehr wohl. Ende vergangener Woche hat er Strafanzeige gegen den Marineinspekteur Admiral Lutz Feldt gestellt. Schließlich hätte der - wohl wissend, dass dies nicht stimmt - allen Kommandanten befohlen, die Rettungsmittel der Marine als intakt und geeignet zu betrachten. Augen zu und durch - bis ans Horn von Afrika.
An dem Tag, an dem die Marine den Tod der beiden Matrosen vermeldete, sprengten sich in Kabul zwei deutsche Feuerwerker - nebst drei dänischen Soldaten - in die Luft, als sie mit Hammerschlägen auf den Sprengkopf SA-3-Luftabwehr-Raketen zerlegten. Acht ISAF-Angehörige erlitten zum Teil schwere Verletzungen. Abermals hieß es, die Soldaten hätten wider die Vorschriften gehandelt. Wohl wahr, nur wer hat es ihnen gestattet und warum?! Die Staatsanwaltschaft Lüneburg gab sich allzu leicht geschlagen. Wer mehr wissen wollte, musste sich den dänischen Untersuchungsbericht besorgen. Es verging eine gute Woche, da wurde vom Absturz eines Bundeswehr-Rettungshubschraubers über Hamburg berichtet. Bilanz: Fünf Tote. Der Pilot des UH-1D, so hieß es, habe 1,5 Promille und der Bordmechaniker 1,2 Promille Alkohol im Blut gehabt. Morgens, kurz vor halb zehn über einer deutschen Großstadt.
Doch irgendwas an der Darstellung ist seltsam. Drei Wochen vor dem Absturz hat man im Lufttransportgeschwader 63 eine Beurteilung über den Piloten angefertigt. Der Hauptmann bekam glänzende Zeugnisse. Er sei eine »sehr markante und durchsetzungsstarke Persönlichkeit«, habe »exzellente theoretische und besonders fliegerische Fähigkeiten«. Und weiter: »Gerade bei der Erziehung junger Luftfahrzeugführer beweist er Geschick und Können«. Fazit: Der Offizier gehört »in der vergleichenden Betrachtung zu den Spitzenkräften der Staffel und bringt in außergewöhnlichem Maß überragende Leistungen«. Und dieser Spitzenmann baut im Suff Bruch, tötet fünf Menschen?
Kameraden behaupten weiter, dass man sich bei der Untersuchung besser um den Zustand des Materials als um den der Piloten hätten kümmern sollen. So wie beim Absturz einen CH-53 Hubschraubers in Kabul. Erst nach und nach gab man zu, dass die Turbinen unter den extremen Bedingungen in Afghanistan nicht standhalten. So wie die Heeresflieger klagen auch Tornado-Piloten der Luftwaffe über verordnete Schlamperei. Rein statistisch liegt die Unfallwahrscheinlichkeit bei extremen Tiefflugübungen in 30 Metern Höhe - sie werden vor Labrador geübt - bei 28 Prozent. Kaum vorbereitet werden die Piloten in diese »Übungsschlachten« geworfen, denn - so sagt die Statistik weiter - daheim dürfen die 80 Piloten eines Tornado-Geschwaders insgesamt nur 150 Stunden Tiefflug üben. Dabei haben sie immer noch 120 Meter mehr Luft zwischen Boden und Tragflächen als vor Kanada. Der Wahnsinn hat Methode: Wer bei der Neuordnung der Welt Partner der US-Strategen sein möchte und zudem im EU-Rahmen eigene Interessen anmeldet, kann auf solche Kritik keine Rücksicht nehmen. Wo geflogen wird, da fallen Tornados. Die deutsche Luftwaffe hat seit Anfang der 90er Jahre allein von diesem Standard-Waffensystem 20 Maschinen verloren.
In der nächsten Woche soll nun gegen den Einweiser des Sani-Panzers verhandelt werden, der in einer Maiennacht vor vier Jahren den schlafenden Kameraden Frank Kuhfuß offenbar übersehen hat. Die Eltern des toten Bundeswehrsoldaten ahnen, dass sie den kleinsten aller vermeintlich Schuldigen vor den Richter stellen. Doch, so Herbert Kuhfuß: »Es kann doch nicht sein, dass keiner unseren Jungen auf dem Gewissen hat«
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