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Ach ja: Unser jüdisches Erbe...

  • HARALD KRETZSCHMAR
  • Lesedauer: 8 Min.

ten, im Parteijargon Abweichler genannt - viele von ihnen Juden. Oder um gleich das unsägliche Wort Halbjude zu gebrauchen - auch solche. Viele hatten durch heroische Kampfund Leidensjahre im Spanienkrieg, in Exil und Lager- oder Zuchthaushaft den Panzer der Unangreifbarkeit erworben. Der Parteiausschluß der Genossen Wieland Herzfelde und John Heartfield 1951 bis 1956 war nicht rassistisch, vielmehr politisch motiviert: Sie leisteten der Idiotenthese von kosmopolitischem Formalismus Widerstand. Paul Dessau und Hanns Eisler machtqn Musik anders als „die“ Partei erlaubte, „die“ Partei tobte. Aus rassischen Gründen? Da lachen die Hühner des Lukullus...

Ich bin Jahrgang 1931. Als ich in Dresden zur Schule kam, hieß mein erster Banknachbar Freitag. Gerade freundete ich Robinson mich mit ihm an, da war er weg. Mit den Eltern emigriert nach London. Bei mir zu Hause hieß es nur mit merkwürdigem Beiklang: Jude. Als ich eines Tages, wer weiß wieso, von Charlie zu schwärmen begann, hörte ich es wieder. Strafend: Chaplin? Jude! Kurz nach 45 kamen Juden aus englischem Exil zurück ins zerstörte Dresden: Paul Lewitt und Charlotte Küter wagten, im Bunde mit der Gewerkschaft neben dem etablierten Staatsschauspiel eine Volksbühne zu gründen. 1948 stieg das erste Brecht-Programm. Hinter mir im Saal rumorten begeistert Fans, die ich kurz danach als Mitarbeiter Brechts in Berlin wiedersah. 1949 machten wir im Intelligenzheim Heiligendamm Sommerurlaub. Mein Vater, ehrwürdiger bürgerlicher Chemiker, erhielt in wilden Stranddiskussionen die ersten Lehrstunden in Antifaschismus von Stephan Hermlin und seiner attraktiven Frau Lilly Leder

In Dresden ging ich zum Kulturbund, um den Verfasser des Buches LTI zu hören. Der geradewegs aus der Illegalität aufgetauchte Victor Klemperer sezierte die Sprache des Dritten Reichs. Wer Ohren hatte zu hören, wurde damit jedwedem Parteijargon gegenüber immun. Neben meiner Schule wurde der „Ulenspiegel“ gedruckt, redigiert von Herbert Sandberg und Karl Schnog, Leidensgefährten aus dem KZ Buchenwald. Ich verschlang die druckfrischen Exemplare, Seite 2 die satirische Kolumne des Dr. Isegrimm alias Friedrich Wolf. Der aus der Moskauer Emigration wiedergekehrte jüdische Arzt hatte das Drama um den Berufskollegen Professor Mamlock geschrieben, dessen rassische Verfolgung den DDR-Theaterbesucher ebenso ergriff wie die der

Anne Frank - denkwürdige Bühnenereignisse.

Mamlocks Tragik bestand darin, daß er als deutscher Patriot anderen deutschen Patrioten nichts Arges zutraute. Intellektuelle, längst von ihren religiösen Bindungen losgelöste jüdische Bürger, trugen auch in der DDR ihr Judentum nicht auf einem Tablett vor sich her Sie waren mit dem guten Vorsatz nach Deutschland Ost gekommen, als Deutsche unter Deutschen, als Sozialisten unter Sozialisten zu leben. Fanden sie ihr Glück? Das können sie nur selbst beantworten. Warum fragt sie keiner? Viele haben in aufopferungsvoller Arbeit ihren Idealen gelebt. Aber es gab genauso Enttäuschung, Anpassung, Rebellion und Repression. Aber rassische Verfolgung? Undenkbar.

Als ich 1950 nach Leipzig zum Studium ging, da blitzte dort in einem Hörsaal der verwickelte jüdische Esprit des Ernst Bloch und im anderen die glasklare jüdische Dialektik

des Hans Mayer. Weiter. Ich kam zu einer Ausstellungseröffnung von Hans Grundig und seiner jüdischen Frau Lea Langer ins Museum: Sie bekannte ihre linke Gesinnung - aber Marxisten? Das seien sie beide nicht. Doch als 15 Jahre später Bloch und Mayer der DDR desillusioniert den Rücken kehrten, hatte Frau Präsidentin Lea Grundig den Gipfel der Illusion erklommen, kraft ihrer marxistischen Wassersuppe einen ganzen Künstlerverband schurigeln zu können. Sie hatte sich mit der Macht ebenso arrangiert wie der ehemalige Schauspieler Hans Rodenberg, der mit vielerlei Maßregelungen im Filmwesen politisch Regie führte.

Dennoch: Ich habe beobachtet, daß jüdische Intellektuelle zu Machtfragen ein eher allergisches Verhältnis haben. Wären sie-Machtpolitiker'gewesen, hätten sich Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ganz anders verhalten. Und wie war es mit den Politbüro-

mitgliedern Hermann Axen und Albert Norden, wird man fragen. Als stupide Betonköpfe kann sie nur pure Böswilligkeit einstufen. Der brillante Argumentierer ' Norden brachte zwar für Walter Ulbricht die Medienpolitik auf Vordermann - aber mit welchen Ausnahmen! Sein Nachfolger Joachim Herrmann hätte doch nie die spielerische Souveränität der ehemaligen USA-Emigranten Gerhart Eisler und Hermann Budzislawski zugelassen, die eher auf Common sense als auf dogmatische Einengung hinauslief. Immerhin war der eine Chef aller Radiosender, der andere Chefredakteur der „Weltbühne“.

Jüdische Namen waren im Presse- und Medienwesen des Landes weitverbreitet. Es begann 1945: Lilly Becher begründete die NBI, Sandberg den „Ulenspiegel“, Alfred Kantorowicz „Ost und West“, Rudolf Herrnstadt die „Berliner Zeitung“ Max Keilson und später Georg Krausz leiteten den

Presseverband. Namen wie Goldstein und Kleinert waren mit dem Aufbau von Rundfunk und Fernsehen verbunden. Herrnstadt begann die Reihe jüdischer ND-Chefredakteure, die Axen und Rudi Singer fortsetzten - neben vielen leitenden Redakteuren wie Kahane, Leo, Stern und anderen mehr Herrnstadt wurde von Ulbricht dann als Widersacher ausgeschaltet. „Kantor“ ging nach Abbruch der Ost-West-Brücke verbittert nach Westen. Dafür kam Stefan Heym aus USA.

Stefan Heym! Erst hofiert, dann geduldet, schließlich angefeindet. Immer derselbe Heym. Wie unbotmäßig waren Hans Mayer und Heym auf dem 56er Schriftstellerkongreß - so daß ihnen der aufgebrachte Ulbricht persönlich vom Rednerpult zuwetterte. Muntere Zeiten. Dahinein kam ich junger Spund, als ich beim „Eulenspiegel“ gleichzeitig mit dem 30 Jahre älteren Leo Haas anfing. Leo, der durch die Hölle von Theresienstadt, Auschwitz und Sachsenhausen gegangen war, war am stärksten als Gestalter antifaschistisch-jüdischer Thematik. Als braver KPTsch-Genosse wurde er beim Prager Frühling 1968 erst in Euphorie, dann in arge Zweifel gestürzt. Doch halt ich darf Peter Nelken nicht vergessen.

Der kluge Sohn der immer zwischen West- und Ost-Berlin pendelnden Schriftstellerin Dinah Nelken erhielt 1957 die undankbare Aufgabe, die wilden „Eulen“-Eskapaden des Jahres 56 als neuer Chef zu beenden. Da hatte bei uns der gerade aus politischem Knast gekommene Doktor Steinberger Ökonomietheorien vorgetragen, die von Ulbricht als konterrevolutionär angesehen wurden. Dieser Konflikt war ideologisch, nicht rassisch. Nelken hatte eine geschliffen klare Haltung zur „Jüdischen Frage“ Ich war Zeuge, als er dem einflußreichen Dichter Sergej Michalkow aus Moskau vorhielt, daß es im sowjetischen Paß die Bezeichnung „Nationalität: Jude“ gäbe. In Deutschland gebe es nur Deutsche, und das sei gut so. Nelken verstand es, fair und mit offenem Visier zu kämpfen, wenn er eine Art Satire zu machen für falsch hielt - so geschehen 1964 bei einem Auftritt des damals noch frei agierenden Wolf Biermann im Kleinmachnower Intelligenzklub.

Leider verhärteten sich mit zunehmendem Alter der DDR die Positionen im Hinblick auf Initiativen jüdischer Intellekr tueller Georg Honigmanns Rolle als Initiator der DEFA-Satiren „Stacheltier“ und als Direktor des Kabaretts „Die Distel“ - wer dachte noch daran? Wie unselig die Rolle des aus der Westabteilung des ZK an

die Spitze der Agitation gewechselten Hein Geggel, der die Medien im Sinne Erich Honeckers in die Totalreglementierung trieb. Da konnte nur noch die unorthodoxe Sicht des hofnärrisch agierenden Jürgen Kuczynski auf die große Welt draußen und die kleine Welt drinnen trösten. Wie tragisch letzten Endes die letzte ZK-Rede Konrad Wolfs über den Antifaschismus! Welch grundehrliche und hochkünstlerische Menschlichkeit hat den Sohn Friedrich Wolfs als Filmregisseur wie als Akademiepräsident ausgezeichnet! An seiner Seite Wolfgang Heinz als Theaterverbandspräsident und Anna Seghers als Schriftstellerverbandspräsidentin. Anna, die ihre Tochter bat, den Chanukka-Leuchter vom Schreibtisch zu entfernen, wenn Leute ihr Arbeitszimmer besichtigen - ihr letztes in der DDR erschienenes Buch war ihre Examensarbeit über die jüdischen Motive bei Rembrandt...

Doch DDR-spezifisch jüdisch war ein großer Teil der KZ-Literatur Wer kann Bestseller wie Bruno Apitz' „Nackt unter Wölfen“, Jurek Beckers „Jakob der Lügner“ und Peter Edels „Bilder des Zeugen Schattmann“ vergessen? Dann trug Lin Jaldati landauf landab jiddische Folklore mit großem Engagement vor - sie war die erste, die nach einer Israelreise öffentlich mit großer Sympathie darüber berichtete. Wo soll das anders gewesen sein als in der guten alten „Weltbühne“, die immer Wert auf Autorennamen wie Dreifuß, Kamnitzer, Kahn, Kaufmann, Keisch und Loeser legte? Als parallel zu der späten Wiederentdeckung der jüdischen Friedhöfe das Interesse für israelitische Gemeindetraditionen erwachte, erschienen dann im „Sonntag“ die Beiträge Irene Runges dazu.

Die von außen und nun nachträglich geübte Schelte am DDR-Umgang mit dem Thema reduziert sich leider auf den Aspekt des reinreligiösen jüdischen Lebens. Das geschieht in seltsamer, beinahe heuchlerisch zu nennender Verkennung der Emanzipierung von Menschen zu aufgeklärten Humanisten und Sozialisten. Ich habe die Integration jüdischer Elemente in die deutsche Kultur immer als imponierende geistige Steigerung empfunden. Und genau dies wurde bei allen Tiefschlägen durch eine übermächtige Administration in dem verblichenen Land weitergeübt. So wie die sozialistische Arbeiterbewegung die Befreiungsbestrebungen dieser Menschengruppe/ aufnahm und ihre Geschicke einer großen Reihe von Gründerund Führerpersönlichkeiten von dieser Herkunft anvertraute, so entwickelt sich Geschichte auf anderer Ebene weiter Heute und hier

„Es“ hat mein Leben als Mensch und Künstler mitgeprägt: Ich habe das DDR-spezifisch Jüdische als progressiven Geist erlebt. Die enormen Schwächen seiner Träger blieben mir nie verborgen.

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