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Arbeitgeber wollen nur „Olympiakader

Dresdner Studie zu den Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit vorgelegt Von MARCEL BRAUMANN, Dresden

  • Lesedauer: 3 Min.

Eine Arbeitsgruppe des „Arbeitslosenverbandes Deutschland“ (ALV) in Sachsen hat gestern in Dresden das Ergebnis einer repräsentativen Befragung von vierhundert erwerbslosen Bürgern vorgestellt. Die aus dem Arbeitsamtsbezirk Dresden stammenden Menschen, die zu 68 Prozent länger als ein Jahr ohne Arbeit sind, äußerten sich zu ihrer psychischen, sozialen und finanziellen Situation.

„Als Frauen waren wir geachtet“, sagt eine 50jährige rückblickend auf die DDR. Das aufgezwungene Zuhausebleiben empfindet sie als „Mißachtung unserer Persönlichkeit“. Eine 55jährige resümiert verbittert: „Es ist wahrscheinlich besser, man ist asozial, dann wird man vom Staat unterstützt.“ Was die Verfasser der Studie unter Leitung von Reinhard Schrade zu hören bekamen, zeugt von einer oftmals verheerenden persönlichen Lage.

79 Prozent der Befragten fühlen sich „nutzlos und überflüssig“, 42 Prozent sehen keine Lösung mehr 14 Prozent

leiden unter Depressionen, und 5 Prozent haben bereits erwogen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Nur knapp 30 Prozent äußerten sich „zuversichtlich“, und ganze 6 Prozent sehen keine Verschlechterung im Vergleich zur Zeit vor der Arbeitslosigkeit.

Drei Viertel können sich langfristig ein Leben ohne Berufstätigkeit nicht vorstellen. 77 Prozent erklärten, kein Vertrauen in die Politik der Parteien zu haben, die derzeit in Deutschland an der Macht sind. Die Dramatik der Zustände offenbart auch eine andere Entwicklung: Die Zahl der

Beratungen beim Arbeitslosentreff Dresden, so Werner Rauer von der Bürger- und Schuldnerberatung, nahm zwischen 1992 und 1994 von 1556 auf 4014 zu, der Anteil der hilfesuchenden Langzeitarbeitslosen von 22 auf 576. Dabei verfügt der Arbeitsamtsbezirk Dresden mit seinen rund 600 000 Einwohnern und 50 000 Erwerbslosen (einschließlich verdeckter Arbeitslosigkeit) über die günstigsten Verhältnisse in ganz Sachsen. Dem Durchschnittsbesucher der Schuldnerberatung, der 30 000 Mark persönliche Verbindlichkeiten mit sich herumträgt, nützt das nichts. Gleichzeitig verschlechtert sich die materielle Situation der Arbeitslosen ständig: 85 Prozent, ermittelte die Studie, sind künftig nur mit Einschränkungen oder gar nicht abgesichert.

Die Autoren sehen erheblichen politischen Zündstoff in

dem geistigen Erbe einer Arbeitsgesellschaft, in der 96 Prozent der Erwerbsfähigen berufstätig sowie ein Drittel der Rentner ganztägig oder in Teilzeit tätig waren. Denn unter den Bedingungen der Kapitalverwertung sei allenfalls für 70 Prozent Platz - mit sinkender Tendenz. Daraus ergäbe sich zum einen, „daß man mit Arbeitslosen fast alles machen kann“, Unterbezahlung, ungünstige Arbeitszeiten, extrem lange Anfahrtswege.

Zum anderen sehen 58 Prozent der Ost-Arbeitslosen die Ursache ihrer mißlichen Situation ausdrücklich in der „Hilflosigkeit der Politiker“ Schrade warnte vor der „gefährlichen Ideologie: Freie Bahn den Tüchtigen“ Viele Arbeitgeber wollten nur noch „Olympiakader“ haben: „jung, flexibel, lange Berufserfahrung“. Der „Bürger muß sich damit abfinden, daß er wie Bananen vermarktet wird.“

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