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  • Kultur
  • Erinnerung an den Komponisten Paul Hindemith, dessen Geburtstag sich heute zum 100. Male jährt

Wie eine leichtsinnige Maus...

  • Lesedauer: 4 Min.

Um den Jahreswechsel 1934/1935 entwarf Bertolt Brecht einen Brief an Paul Hindemith, in dem es hieß: „Lieber Hindemith, ob Sie wollen oder nicht, Sie können eine Musik, wie sie in Hitlerdeutschland verlangt wird, nicht schreiben. - Die braunen Herren haben durchaus recht, wenn sie finden, daß Ihre Musik nicht ihrer Sache dienen kann. - Räumen Sie das Feld!“

Das war die Reaktion auf den Fall „Hindemith“ Der Dirigent Wilhelm Furtwängler hatte sich unter dieser Schlagzeile in einem Zeitungsartikel für den Komponisten eingesetzt, den die Na2is zur „entarteten Kunst“ zählen wollten. '

Hindemith galt seit den zwanziger Jahren als „Bürgerschreck“ in den Konzertsälen: Mit neuen Klängen, szenischen Attacken auf die Spießermoral, durch Jazziges, aber auch durch bewußtes Opponieren gegen den spätromantischen Klangrausch provozierte er. Zeit seines Lebens wurde er geschmäht wie gefeiert. Aus Politischem wollte der Komponist sich heraushalten. Auch nach den Anpöbelungen die seiner „Mathis“-Musik folgten, arbeitete er weiter an der Berliner Musikhochschule.

Seiner Frau Gertrud in der Schweiz kommentierte er diese Haltung 1939 so: „Ich komme mir immer vor wie eine Maus, die leichtsinnig vor der Falltüre tanzte und auch hineinging; zufällig, als sie gerade mal draußen war, klappte die Tür zu.“

1938 ging er in die Schweiz, sorgte sich später für mehrere Jahre in Ankara im Auftrag der türkischen Regierung um die Reorganisation des dortigen Musiklebens. Er gab Konzerte, war selbst ein virtuoser Bratscher und entwickelte sich zu einem international geschätzten Dirigenten nicht nur eigener Werke. 1940 siedelte Paul Hindemith in die USA über, lehrte an der Yale-Universität in New Haven, leitete (darin ein ernsthafter Vorgänger Nicolaus Harnoncourts) studentische Aufführungen alter Musik, lehrte 1949/50 an der Harvard-Universität. 1947 kam er erstmals wieder nach Europa und übernahm 1951 eine, Professur in Zürich. In den europäischen Musikzentren war er vornehmlich als Dirigent zuhause.

Am 28. Dezember 1963 starb Hindemith in Frankfurt am Main. Am dortigen Hochschen Konservatorium hatte der am 16. November 1895 in Hanau Geborene seine musikalische Ausbildung erhalten, in Frankfurt begann er als 1. Konzertmeister am Opernorchester, war Mitglied u. a. des berühmten Amar-Quartetts und erregte mit seinen Kompositionen bei den Musikfesten in Donaueschingen und Baden-Baden Aufsehen.

Dmitri Schostakowitsch, der ihn während der 20er Jahre traf, erinnerte sich: „Hindemith ist ein echter, ernsthafter Musiker und ein angenehmer Mensch. Ich habe ihn ein wenig kennengelernt, als er als Mitglied eines Quartettes Le-

ningrad besuchte. Er machte einen sehr sympathischen Eindruck. Seine Musik war wie er selbst: alles am rechten Fleck, fest gefügt. Das war nicht nur handwerklich gekonnt. Es hatte Stimmung, Sinn und Gehalt.“

Hindemith, der Zeitgenosse Schönbergs, Strawinskys, Bartoks stand mit seiner Vorliebe für die Kunst meisterlichen kompositorischen Handwerks in einer großen Tradition. Ein Musikant durch und durch, der so ziemlich alle Instrumente, die in seinen Partituren vorkamen, auch selbst spielen konnte. Ein Komponist, der sich auch um die Grenzen musikalischer Neuerungen praktisch wie theoretisch sorgte: „Das Baumaterial läßt sich nicht sehr weit von gewissen strukturellen, harmonisch-tonalen und melodischen Prototypen entfernen, ohne daß der Zuhörer auf seine aktive Rolle im Prozeß der musikalischen Verwirklichung verzichten müßte.“

Das trug ihm Schelte ein von den Propheten der musikalischen Avantgarde der 50er und 60er Jahre. Er wurde als „raffinierter Naiver“ entlarvt (Adorno). Und man sah ihn schon beim konservativen alten Eisen. Die Aufführungszahlen seiner Werke gingen zurück. Noch zum 90. Geburtstag 1985 wurde seiner kaum mehr gedacht. Jetzt, zum hundertsten, hat sich das schon wieder sehr geändert. Eine Hindemith-Renaissance liegt in der Luft. Seine sinfonischen Werke, die Konzerte,

Kammermusiken, die Opern „Cardillac“ (uraufgeführt in Dresden 1926), „Mathis der Mahler“ (Zürich 1938), „Die Harmonie der Welt“ (München 1957), auch seine Ballettmusiken, sind wieder im Kommen. Sie stehen gewichtig neben dem Erbe der Avantgarde. Die einen sind Zeugen und Repräsentanten der Musik des 20. Jahrhunderts wie die anderen. In Vorzügen wie Widersprüchen.

Bei Hindemith ist es die Vitalität, das phantasievolle Auf-

greifen alter Handwerkspraktiken, die seiner Kunst Kraft, Klarheit und Profil verleihen. Und es ist die Sisyphus-Arbeit Hindemiths wie vieler Zeitgenossen, sich praktisch in die Welt zu stellen, ihren Problemen aber möglichst aus dem Wege zu gehen, sich in Visionen zu flüchten, die wenig von dieser gequälten Erde sind. Da liegen die Widersprüche, auch dieses Großen im Reiche der Tonkunst. Er hat sie künstlerisch formuliert: In den Gesängen vom „Marienleben“,

Foto: DPA

dem „Ludus tonalis“ (dem „Wohltemperierten Klavier des 20. Jahrhunderts“), den Opern, der Bruckner-nahen Sinfonie in Es, dem ergreifenden Walt Whitman-Requiem „Als Flieder jüngst mir im Garten blüht'“ (unter dem Eindruck der Opfer des zweiten Weltkrieges geschrieben „Für die, die wir lieben“). Im Rückblick auf die Tonkunst des 20. Jahrhunderts wird er eine bleibende, zentrale Gestalt sein.

HANS JÜRGEN SCHAEFER

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