- Politik
- Beim größten brasilianischen Volksfest tanzen Rios Mulatas für eine bessere Zukunft
Karriere im Karneval
„Wenn sie es sich leisten kann, finde ich es wunderbar“, schwärmt Marlene Rosa
Foto: dpa
nevalstracht kostet umgerechnet um die 15 000 Mark.
Nur Dona Neuma, Mitbegründerin der traditionellen Sambaschule „Mangueira“ aus Rio, kann sich mit den gelokkerten Sitten während der schweißtreibenden Karnevalszeit nicht anfreunden. „Nackte Frauen auf den Umzugswagen finde ich schrecklich“, beklagt sich die 73jährige. Ihre Enkelinnen hat sie zur Keuschheit verdammt. „Es ist mir egal, ob ich spießig bin oder nicht, aber wenn man die Zügel losläßt, wollen plötzlich alle nackt beim Karnevalszumzug sein“, meint sie verächtlich.
Ob natürlich oder vulgär die Karnevalsbranche ist einer der wenigen Wirtschaftszweige, der Brasiliens tanzenden „Mulatas“ soziale Aufstiegschancen bietet. „Die Mädchen kommen hierher, weil sie in der Welt herumkommen wollen“, erklärt Edson Figueiredo. Der 22jährige Ballettänzer studiert mit dreißig jungen schwarzen Frauen die Choreographie für die Folkloreshow in der „Plataforma“ ein. Wer den Sprung auf die Bühne schafft, verdient rund 500 Mark im Monat, und - wesentlich wichtiger - geht für zwei Monate im Jahr auf Aus-
landstournee. „Draußen bekommt eine Tänzerin umgerechnet 3500 Mark im Monat.
Der Begriff „Mulata“ (von portugiesisch „mula“ - Esel) ist nicht gerade schmeichelhaft. Einerseits gelten „Mulatas“ als Synonym schwarzer Sinnlichkeit und Schönheit. Andererseits ist die Redewendung „als Mulata arbeiten“ in Brasilien eine Umschreibung für Prostitution. Tänzerin Christiane, als „Mulata“ in der „Plataforma“ angestellt, stört das nicht im geringsten. „Ich werte dies nicht als Beleidigung, sondern als Kompliment“, kokettiert die 24jährige. Das Klischee von der Afro-Brasilianerin mit dem angeborenen Rhythmusgefühl kommt ihr gerade recht. „Wir haben den Samba im Blut“, sagt sie stolz und die dreißig Kolleginnen, die mit ihr trainieren, nicken zustimmend.
„Brasiliens Visitenkarte ist der Karneval, und Karneval hat sich als soziales Trampolin bewährt“, sagt Marlene Rosa. Die erfahrene Kostümträgerin ist in ganz Rio für ihre Fähigkeit bekannt, lächelnd in erdrückend schweren Luxustrachten im Sambarhythmus über die Bühne zu rauschen. Dennoch kann die dreifache Meisterin im Vorführen über-
schwenglicher Karnevalskostüme, ein Wettbewerb, den eine große Hotelkette jedes Jahr zur Karnevalszeit in Rio veranstaltet, von ihrem Ruhm nicht leben. Um ihre Künstlergage von der „Plataforma“ aufzustocken, verkauft sie tagsüber Konfektionen einer Textilfabrik an Boutiquen.
Dennoch hält sich der Mythos vom Samba als sozialem Sprungbrett hartnäckig. „Jedes Jahr wird eine Frau auf dem Wagen entdeckt, und zwar genau diejenige, von der es keiner erwartet hat“, lautet die Erfahrung von Wagner Araujo, Direktor der Sambaschule „Imperatriz Leopoldinense“, die in diesem Jahr ihren Umzug der österreichischen Erzherzogin Leopoldine widmet, der Gemahlin des brasilianischen Königs Pedro I. Der Chef der Sambaschule ist an der Karriere potentieller Fotomodelle nicht unbeteiligt. Schließlich wählt er die Mädchen aus, die sich hoch oben auf den Umzugswagen präsentieren dürfen.
Doch Karneval in Rio beschränkt sich nicht auf den Exibitionismus barbusiger Mulatas. „In einer Sambaschule kommen alle unter“, erklärt die Feministin Maria Rita vom Kulturinstitut IDAC aus Rio. Frau-
en würden als Musen, Königinnen, aber auch als Komponistinnen, Choreographinnen und Mütter gefeiert. Vor sechs Jahren schockte die Sambaschule „Vila Isabel“ bei ihrem Umzug mit dem Thema „Die Erschaffung der Welt“ das Publikum mit einer dichtgeschlossenen Reihe von schwangeren Frauen, die die Rhythmusgruppe anführten. „Die Jury wollte nicht glauben, daß wirklich alle Frauen im
siebten Monat schwanger waren, und vergab deshalb schlechte Noten“, erinnert sich Frauenforscherin Maria Rita.
Sambatänzer Marco Antonio Rodrigues, der für die Sambaschule „Mangueira“ die rosagrüne Fahne vorführt, lobt die Schönheit der Mädchen aus „seinem“ Armenviertel. „Jedes Jahr beim Karneval fragen sich die Leute, wo die ganzen hübschen Frauen herkommen“, erklärt er mit scheinbarem Be-
sitzerstolz. Im Gegensatz zu „Mangueira“-Mentorin Dona Neuma zeigt er für die Ambitionen der Mädchen, Karneval als persönliches Karrieresprungbrett zu nutzen, volles Verständnis - solange es sich dabei nicht um seine eigene Freundin handelt, versteht sich. Für nackte Männer hingegen hat der 25jährige nichts übrig. „Wer sein Geschlechtsorgan zeigt, will nur Aufsehen erregen“, meint er abschätzig.
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