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  • Kultur
  • Anna Larina-Bucharina in Moskau gestorben. Bis zuletzt kämpfte sie gegen die Verleumdung ihres Mannes

„Ich habe Deinen Wunsch erfüllt“

  • Lesedauer: 4 Min.

Der Weg zwischen den Moskauer Archiven, in denen der Nachlaß des Ökonomen und Publizisten Nikolai I. Bucharin aufbewahrt wird, und den Wohnungen seiner in der Hauptstadt lebenden Angehörigen ist mit der Metro in vierzig Minuten zu bewältigen. Und dennoch dauerte es 55 Jahre, bis Anna Larina auch nur einen Bruchteil dessen zu sehen bekam, was dem Ehemann im Lubjanka-Gefängnis abgenötigt worden war

Nikolai Iwanowitsch Bucharin, seit 1906 Mitglied der bolschewistischen Partei, nach 1917 zur Parteispitze gehörend, ehemaliger Chefredakteur der „Prawda“, später der „Iswestija“, wurde 1937 zusammen mit Alexej Rykow und anderen angeklagt, einen „antisowjetischen, rechtstrotzkistischen Block“ gebildet zu haben. Es war vor allem Bucharins Kritik an der „Theorie“ von der Verschärfung des Klassenkampfes beim Aufbau des Sozialismus sowie an der rücksichtslos durchgepeitschten Kollektivierung und Industrialisierung, die ihn bei Stalin in Ungnade fallen ließ. Am 13. März 1938 wurde Bucharin

zum Tode verurteilt und erschossen.

Erst Anfang der 90er Jahre erhielt seine Frau Anna Larina aus dem Archiv des Präsidenten Kopien der von Bucharin nach seiner Verhaftung auf dem Februarplenum des ZK der KPdSU(B) 1937 im Inneren Gefängnis der Lubjanka verfaßten Manuskripte „Der Sozialismus und seine Kultur“, „Philosophische Arabesken“, des autobiographische Züge tragenden Romans „Zeiten“ sowie eines Heftes mit Gedichten und Aufzeichnungen Bucharins in Vorbereitung auf den Schauprozeß. Zu den erschütterndsten Dokumenten, die ihr ausgehändigt wurden, gehörte der Abschiedsbrief ihres Mannes. Sie konnte ihm erst 1992 mit einem „Brief ins Jenseits“ antworten.

Am vergangenen Wochenende starb Anna Larina im Alter von 83 Jahren in Moskau. Gestern wurde sie beigesetzt. 25 Jahre währte ihr Leidensweg durch den Gulag. Sie schilderte ihn in ihren Erinnerungen „Nun bin ich schon weit über zwanzig“ (1. dt. Aufläge: Steidl Verlag, Göttingen 1989).

Als Bucharin am 15. Januar 1938 endlich seiner Frau schreiben durfte, wußte er nicht, daß sie längst in einem Lager für „Angehörige von Konterrevolutionären“ inhaftiert war Auch Bucharins Vater, die Familien der Brüder und ihre Kinder wurden nicht verschont. Nach Stalins Tod begann Anna Larina für die Rehabilitierung ihres Mannes zu kämpfen. Wie Nikolai Iwanowitsch es ihr aufgetragen hatte, wandte sie sich immer wieder an die Parteifunktionäre. Nicht bei allen Generalsekretären fand sie Gehör. Erst 1988 gelang es ihr, die Rehabilitierung ihres Mannes durchzusetzen. Nun konnte sie sagen: „Ich habe Deinen Wunsch erfüllt.“

Wer den in russischen Fachzeitschriften veröffentlichten Briefwechsel der Politbüromitglieder, die von Stalin redigierten Anklageschriften sowie die Gnadengesuche der in den Schauprozessen Verurteilten gelesen hat, kann ahnen, welche „Geständnisse“, was für „Protokolle“ der Verhöre und Gegenüberstellungen, welche Mengen von Spitzeln zusammengetragenen Materials noch

in den Archiven lagern. Sie könnten Rückschlüsse auf die Herrschaftspraxis der sich dem Volk zunehmend entfremdenden Staatspartei geben. Jene, die deshalb den Zugang zu den Archiven erschwerten bzw unmöglich machten, arbeiteten zugleich anderen in Rußland in die Hände, die sich keine Gelegenheit entgehen ließen, Bucharin immer wieder zu diskreditieren. Solche Versuche sind bis in die Gegenwart hinein zu beobachten. So wurde Bucharin in einer 1994 erschienenen Publikation in die Nähe faschistischer Theoretiker gerückt. Während diese absurde Behauptung in 10 000 Exemplaren verbreitet wurde, erschien Bucharins in der Lubjanka geschriebener Roman nur in einer Auflage von 1000 Exemplaren.

Es ist verständlich, daß angesichts dessen die noch lebenden Familienangehörigen Bucharins ausgesprochen sensibel auf die Frage reagieren, was denn in Anbetracht des bruchstückhaft zugänglichen Nachlasses vom „Bucharinismus“ bleibt. So auch Anna Larina. Für sie war jedes Infra-

gestellen ihrer Erinnerungen gleichbedeutend mit einem Angriff auf ihren Mann. Aber natürlich konnte sie, der es nur vergönnt war, drei Jahre mit Bucharin zusammenzuleben, nicht alles wissen.

Ich habe Anna Larina kennengelernt, als die Sowjetunion auseinanderbrach. Das Ende hatte viele Gesichter: Es waren nicht nur die baufälligen Chruschtschewkas, die unter Nikita Sergejewitsch errichteten Mustersiedlungen, die in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung abgerissen wurden, es waren auch die Umbenennungen der nach Bucharins Kampfgefährten benannten Metrostationen. Das hatte sie alles schon einmal erlebt. Straßen, Krankenhäuser, Haltepunkte der Eisenbahn und Regionen, die Bucharins Namen trugen, wurden schon 1936/37 umbenannt.

Ihr „Brief ins Jenseits“ endet mit den Worten: „Machs gut, Kolka. Du sollst wissen, daß ich es nie bereut habe, daß ich mein Leben mit Deinem verbunden habe. Dich zu vergessen ist unmöglich!“

WLADISLAW HEDELER

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