Berlin, wie es im Buche steht. Heute: Ingeborg Drewitz Engagiert und unbequem
von Gerhard Holtz-Baumert
Im Mai 1971 las die Berliner Autorin Ingeborg Drewitz, wie sie es oft tat, ihre neue Erzählung „Straßentheater“ im Goethe- Institut, die Wirkung zu erproben. Der Text: Zwei junge Leute haben selbstgemalte Plakate geklebt, bauen ein kleines Podest aus Kistenbrettern und zeigen mitten am Tage auf der Straße ihre Pantomime »Romeo und Julia in der Bergmannstraße«. Dem Streifenwagen, der sofort zur Stelle ist, wird befohlen: »Menschenauflauf in der Bergmannstra-ße beobachten!«
Sie spielen die klassische Liebesgeschichte, die aber nicht tödlich endet, sondern in der Ehe. Der Mann arbeitet, die Frau versucht, die häusliche Enge zu weiten, Platz für Selbstverwirklichung zu schaffen, aber ihre Bewegungen »werden immer müder, immer langsamer«. Die modernen Julia und Romeo tanzen in ihrer Pantomime den Alltagstod der Liebe. Die junge Frau nestelt am Schluß an einer Kette, die sie versteckt hält, Symbol, daß sie ein letztes bißchen Schönheit nur
heimlich haben kann.
Zuschauer sind stehen geblieben, neugierig, interessiert, skeptisch, enttäuscht. Einige Männer schätzen die junge Frau erotisch ab: Wenig los mit ihr! Jemand meint unwidersprochen: »Diese Spinner haben nichts Besseres zu tun.« Die Kassiererin in einem Discountladen, die immer nur Bruchstücke sehen konnte, meint: »Hätten wir mal die Straße versperren sollen...« Einer nimmt die jungen Pantomimen in Schutz, ja, »aber waschen sollten sie sich.« Viele schweigen, ob nachdenklich geworden, erkennt man nicht.
Nach der Vorstellung schleppen die jungen Leute die Podiumsbretter weg. Morgen wollen sie am Karlsplatz oder unter dem Hochbahnbogen oder in der Neuenhagenerstraße auftreten.
In ihrer Wohnung ist es kalt, sie sind zwei Monate in Mietrückstand. Er wickelt sich in eine Decke und liest, sie freut sich über die Nachricht, daß eine Lehrerin den Rektor gebeten hat, sie vor oberen Klassen spielen zu lassen. Die junge Frau setzt den Bunsenbrenner in Gang; sie faßt Turmalinsplitter ein, die sie morgen einem Juwelier bringen will. Sie wird dem Mann dann Äpfel kaufen, die er mag. Und sie überlegt, daß man die Bretter des Podiums verheizen könnte, ihr einziges Brennmaterial. Aber sie wollen ja wieder spielen. Ihre Hoffnung: »Vielleicht
kommt das Fernsehen..« und sie werden entdeckt.
In der Diskussion um die Erzählung gab es Zustimmung, doch Unzufriedenheit mit dem Schluß; Ingeborg Drewitz antwortete: »In der Leistungsgesellschaft unterliegt man Zwängen.«
Die Schriftstellerin ist in Berlin geboren, hat hier studiert und geschrieben, ihre Kinder großgezogen und ist 1986 auch hier gestorben. Sie fühlte sich als »exemplarische Berlinerin«. Weil Faschismus, Krieg, Widerstand die Grunderlebnisse der 1923 Geborenen waren, setzte sie sich literarisch und politisch leidenschaftlich für sozial Benachteiligte, für Frauenrechte, Strafgefangene und Asylanten ein. Die Erkenntnis: »Engagiert lebt sich's nicht bequem in diesem Land«, schreckte sie nicht ab, und gleichzeitig, echt Berlinisch, war ihr Bekenntnis: »Ich hasse Betriebsamkeit und Emsigkeit.«
Der Erzählungsband »Der eine, der andere« von Ingeborg Drewitz im Goldmann Verlag enthält die Erzählung »Stra-ßentheater«. Vor 25 Jahren verfaßt, wirkt sie wie eben geschrieben: Noch immer suchen junge Künstler ihren Weg, spielen vielleicht am Alex oder in Marzahn, sto-ßen auf Interesse oder Gleichgültigkeit und haben die unzerstörbare Hoffnung, eines Tages entdeckt zu werden.
Nächste Woche: Chamisso
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