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»Jammerossi«?

Stimmt nicht mehr! Überraschende Resultate einer Befragung: Frisches Selbstwertgefühl im Osten, zunehmende Selbstzweifel im Westen Von Thomas Biskupek

  • Lesedauer: 5 Min.

Zeichnung: Harald Kretzschmar

Die Vorurteile vom »Besserwessi« und vom »Jammerossi« haben sich oft genug bestätigt und gelegentlich auch nicht. Nun kommen Leipziger Wissenschaftler und behaupten: Stimmt alles nicht, jedenfalls nicht mehr. Zwar sei nichts zusammengewachsen, doch vornehmlich in den letzten zwei Jahren habe sich trotzdem viel verändert. Das läßt sich kurz auf zwei Punkte bringen: Im Osten wuchs frisches Selbstbewußtsein; im Westen blühen neuerdings Selbstzweifel.

1017 Ost- und 1040 Westdeutsche waren im März und April dieses Jahres im Auftrag der Leipziger Uni durch ein Berliner Meinungsforschungsinstitut befragt worden: zu ihren sozialen Beziehungen, zur Sicht auf die eigene Persönlichkeit, über ihre Beziehungen zu den Eltern, zu Gesundheit und Kinderwunsch.

Allein bei den »zwischenmenschlichen Beziehungen« gab es bei den Antworten auf 37 von 54 Fragen erhebliche Abweichungen zwischen Ost und West. So meinen Ostdeutsche viel stärker, Unterstützung von Freunden und Angehörigen zu spüren, sich anderen anvertrauen und mit vielen Menschen Freud und Leid teilen zu können. Westdeutsche geben häufiger an, sich als Außenseiter zu fühlen. Im Bereich der sozialen Beziehungen schätzen sich Ostdeutsche als selbständiger, interessierter, warmherziger und liebevoller ein, als sich die Westdeutschen sehen.

Prof. Michael Geyer, Direktor der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin der Universität Leipzig, sieht darin eine Auflösung der Nach-Wende-Klischees. Prof. Dr. Elmar Brähler, Leiter der selbständigen Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Leipziger Universität, stellt fest: Die Analyse belegt die anhaltend deutlichen Unterschiede zwischen den Bewohnern Deutschlands. Es sind andere als 1990, aber die Differenzen sind ebenso groß.

Natürlich spiegelt die Studie ausschließlich Selbsteinschätzungen wider -

die nicht unbedingt richtig sein müssen. Beispielsweise empfänden sich viele Ostdeutsche stärker von Krankheiten bedroht, so von Herzinfarkt, die erwiesenermaßen im Westen verbreiteter sind. Doch unterm Strich bleibt: gewachsenes Selbstwertgefühl.

Die Psychologen suchten Erklärungen. Und die hörten sich für ostgewachsene Ohren abenteuerlich an. So nannte Geyer das neue Identätsgefühl weniger ein nostalgisches. Die Leute hätten sich einfach nach der tiefen Krise von 1989 auf das Wichtigste besonnen, was sie hatten: einigermaßen verläßliche Beziehungen vor allem in den Familien, die teils als Gegenstruktur zur repressiven Gesellschaft aufgebaut waren. Im Westen hätte schon seit den 70er Jahren die Vereinzelung der Menschen eingesetzt. Viele

meinten zu früh, daß sie niemanden brauchen. Das mache sie anfälliger gegenüber den jetzigen Schwierigkeiten.

Brähler setzt noch eins drauf mit seiner Feststellung, die Westler hätten sich zunehmend als Strahlemänner gesehen, und dieser Narzismus hätte gerade Ende der 80er Jahre seinen Höhepunkt erreicht. Deshalb wäre nach der Vereinigung die sogenannte Ostalgie auch so sehr gegeißelt worden. Inzwischen habe sich in den neuen Ländern die Erkenntnis wieder stabilisiert, daß man auf seine zwischenmenschlichen und sozialen Erfahrungen bauen kann. Im Westen gebe es nichts Vergleichbares.

Auf einen weder durchgängig für die einen noch die anderen sprechenden Punkt brachten es die Fachleute mit der Feststellung, im Westen habe man nach

dem Prinzip Spaß statt Arbeit gelebt, im Osten für die Arbeit sogar seine Freizeit eingerichtet. Eine Auffassung ohne politische Wertungen. Die seinerzeitigen Urteile über die Fähigkeit des Ostlers, vernünftig zu arbeiten, bekommen dadurch allerdings einen neuen Hintergrund, der sich auch so deuten läßt: Wie irrsinnig muß ein Wirtschaftssystem sein, daß trotz solcher engagierter Leute an den Baum fährt? Allerdings läßt sich auch folgern: Die neuen Erfahrungen mit der Arbeitslosigkeit, die den Osten flächendeckend trafen, führten zur verklärenden Rückbesinnung.

In einem weiteren Untersuchungsabschnitt wurden die Befragten gebeten, Auskunft darüber zu geben, wie sich die Eltern ihnen gegenüber in der Pubertät verhalten haben. Auf der vorgegebenen

siebenpunktigen Werteskala fallen die Urteile der Ostdeutschen bis zu über einem halben Punkt positiver als die der Westdeutschen aus - und zwar durchgängig.

Geyer will das eingeschränkt wissen, indem er vorsichtig formuliert: »Die Ostdeutschen tun so, als hätten sie die bessere Kindheit erlebt.« Brähler spottet aber auch, genau an dem Punkt würden ihm Westkollegen niemals folgen. Weil sie - ohne exakte Untersuchungen - davon überzeugt sind, daß durch Kindereinrichtungen geprägte Menschen als »soziale Waisen« aufgewachsen seien. Auch mancher Ostdeutsche - er nannte da Frau Bohley - äußere seit der Wende, daß die DDR nur seelisch Kranke, Verbogene hervorgebracht habe. Doch in ihren Erklärungsversuchen kamen die Experten zu dem Schluß, daß die Gruppenerziehung auch eindeutige soziale Vorteile habe, daß die Bedrängnisse in der typischen Westfamilie anders, oft eben negativer waren.

Die Ehefrau, die nur Anhängsel des Mannes und Ernährers ist, höchstens verkürzt oder gar nicht arbeitet, wurde im Ansehen einfach geringer geschätzt als ihre selbstbewußte Ostschwester, die rein finanziell die Familie auch allein durchbringen konnte. Dem geringeren Zeitfonds der Eltern stünden demzufolge höhere Intensität und stärkere Zuwendung gegenüber Die Kinder mußten nicht auf den kapitalistischen Alltag getrimmt werden, Geldsorgen spielten keine existentielle Rolle, also auch nicht in den familiären Gesprächen. Außerdem stellt sich die Vorstellung vom überparteilichen Wert »Freiheit« als das eine heraus, die Erfahrung mit dem kapitalistischen Staat, der viel stärker in die Familien eingriff, als das andere.

Das hieße, daß der vielbeklagte »vormundschaftliche Staat« zwar existiert und die Leute in seinem Sinn geprägt hat, daß aber Kindergärten, Pionier- und FDJ-Organisation samt »Schulen der sozialistischen Arbeit« letztlich weniger dauerhaft als Repression empfunden wurden als der alltägliche Überlebenskampf heute. Auch wenn der mit besseren Autos und billigen Bananen geführt wird.

Erstaunlich an diesen Kindheits-Wertungen: Sie kamen aus allen Altersgruppen -?von den 90- wie den 16jährigen. Obwohl die Alten ihre Kindheit in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts unter prinzipiell gleichen Bedingungen wie die Westdeutschen verbrachten. Wenn sie die Kindheit heute positiv verklären, dürfte das auch an der DDR-Realität gelegen haben, die ihren Lebenshintergrund für vier Jahrzehnte prägte.

Freilich prophezeien die Fachleute auch eine rapide Zunahme psychosomatischer Krankheiten, wenn diejenigen erwachsen werden, die die Wende als Kleinkinder erlebten, weil sie ihre wesentlichen Prägungen erfuhren, als die Eltern unter Existenzängsten litten. Weitere Wandlungen in der Ost-West-Befindlichkeit sind demzufolge zu erwarten.

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