Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

  • Politik
  • ? Ein Augenzeuge der Beisetzung Gerhart Hauptmanns am 28. Juli 1946 berichtet

Katerstimmung und Mückenstiche vor Sonnenaufgang

  • Lesedauer: 3 Min.

Der Dichtergreis Gerhart Hauptmann hatte die Zeitenwende wie im ruhigen Auge eines Taifuns überlebt, und niemand hat ihn aus seinem schlesischen Agnetendorfer Märchenschloß vertrieben. Er durfte sogar Zukunftspläne zur demokratischen Erneuerung schmieden, aber am Ende ging nur noch sein allerletzter Wunsch in Erfüllung, wenn schon nicht in Schlesien, dann doch auf Hiddensee begraben zu werden. Ein Sonderzug überführte Sarg, Witwe, Freunde und Nachlaß nach Berlin.

Sieben Wochen nach seinem Tode am 27 Juli sprechen der sowjetische Oberst Tulpanow und der Kulturbundpräsident

Johannes R. Becher auf der offiziellen Trauerfeier im Rathaus von Stralsund. Dann bewegt sich eine imposante Prozession, an der Spitze die Talarträger der Universität, unter Glockengeläut zum Hafen. Die Bevölkerung nimmt großen Anteil am letzten Geleit für den volkstümlichen Dichter der »Weber«. Besondere Beachtung finden die eleganten Kulturoffiziere der sowjetischen Besatzungsmacht, für die Gerhart Hauptmann das andere, das bessere Deutschland verkörpert. Vor der Abfahrt nach Hiddensee erweist es sich als notwendig, ein zweites Schiff zu chartern, um auch die Trauergäste zweiten Grades, die Journalisten, sowie die

Fässer und Kisten für den Leichenschmaus auf die Insel zu schaffen. Der Kapitän eines zur Abfahrt bereiten Rügendampfers bekommt die neue Marschorder. Er flucht pietätlos, denn er hatte erst vor kurzem sein eigenes Schiff hergeben müssen, aufs Reparationskonto.

Die Trauerflottille erreicht die Insel, noch bevor die goldene Abendsonne im Meer versinkt. Hiddenseer Fischer geleiten den schlichten Sarg zum Haus Seedorn, wo der Tote in seinem Arbeitszimmer aufgebahrt wird. Indes sind die Trauertouristen damit beschäftigt, ihre Quartiere aufzusuchen und zum Abendbrot zu eilen. Beide Restaurants haben ein vol-

les Haus. Die Fischer erzählen Anekdoten aus dem Leben Gerhart Hauptmanns an Bord ihrer Insel. Sie erheben ihr Glas, um auf das Wohl des alten Freundes zu trinken. Die Insulaner beteuern, der Gerhart würde ihnen solch einen feucht-fröhlichen Abgesang nicht verübeln, denn er habe hier selbst gerne rauschende Feste gefeiert. In dieser Nacht machen auf der Insel viele kein Auge zu, auch der Schauspieler Otto Gebühr nicht, der die unruhigen Zeiten in seinem Inselhäuschen abwartet und zuweilen am Stralsunder Theater gastiert. Jetzt, nachts um drei, trinkt er mit mir, seiner Einquartierung, schnell noch einen Schnaps, aber er will allein sein, denn er hat »noch die Grabrede zu dichten«. So hockt er sich in seine urige Sitzecke, auf dem Tisch eine Kerze, ein leeres Glas und ein leeres Blatt.

Noch im Dunkel der Nacht gehen die ersten Trauergäste zum Haus Seedorn. Auf Wunsch des Toten soll sein letzter Gang vor Sonnenaufgang stattfinden. Über der Versammlung liegt eine unter-

drückte Katerstimmung. Leise Flüche werden laut, wegen der Mücken! Die angestochenen Damen wedeln zur Notwehr mit den Röcken. So wird es höchste Zeit, daß die Tür des Hauses aufgeht und der Sarg herausgetragen wird.

Mit den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne erreicht man den Dorffriedhof. Die Prominenten folgen in die kleine Dorfkirche. Später am Grab kommt nach Wilhelm Pieck, dem großen Mann der neuen Einheitspartei, der kleine Otto Gebühr zu Wort. Anschließend wirft Margarete Hauptmann auf den Sarg mit den grünen Tannenzweigen die Erde, die sie aus Schlesien mitgebracht hat. Die Morgensonne taucht den Friedhof in ein freundliches Licht. Hier begibt sich eher eine Heimkehr als ein Abschied. Dieser Tote hat die Reife des Alters voll auskosten können, was den Menschen dieser Kriegs- und Nachkriegszeiten nur selten vergönnt ist.

Gerd Walleiser 10407 Berlin

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.