Exzessiver Fleischkonsum in den Industrieländern verschärft das Hungerproblem in der Dritten Welt Das Vieh der Reichen frißt das Brot der Armen
Foto: Joachim Fieguth
Hildegund Scholvien, Vizepräsidentin des Vegetarier-Bundes Deutschlands und Präsidentin der Europäischen Vegetarier-Union, konstatierte auf der Tagung in Hannover eine »stürmische Entwicklung« des Vegetarismus und verwies auf internationale wissenschaftliche Studien, die bestätigen, daß diese Lebensweise nicht nur für den einzelnen gesundheitlich vorteilhaft sei, sondern auch helfen könne, das Welthungerproblem zu lösen.
Professor Marcel Hebbelinck aus Brüssel, Vorstandsmitglied der Internationalen Vegetarier-Union, beklagte ebenfalls den hohen Verlust, unter dem heute ein großer Teil der pflanzlichen Nahrungsmittel in Fleisch umgewandelt wird. Schätzungen der FAO gehen davon aus, daß 38 Prozent des weltweit geernteten Getreides sowie anderer Nahrungspflanzen an Nutztiere verfüttert werden. Rein rechnerisch ließen sich damit drei bis vier Milliarden Menschen oder rund zwei Drittel der Weltbevölkerung mit Nahrung versorgen.
Verstärkt wird diese verhängnisvolle Entwicklung dadurch, daß traditionell mehr auf vegetarische Ernährung ausgerichtete Länder sich unter westlichem Einfluß zunehmend von diesem kulturel-
len Erbe verabschieden. So ist in China in den vergangenen Jahren die Nachfrage nach Eiern, Hühnern und Schweinen derart gestiegen, daß sich das Land innerhalb kurzer Zeit zum zweitgrößten Getreideimporteur der Welt entwickelt hat.
Doch die Ernährungskrise in den armen Ländern hat noch eine andere Dimension. Außer den Millionen Menschen, die in vielen Teilen der Welt nicht genug zu essen haben, gibt es weitere Millionen, denen zwar genug, aber nicht die richtige Art von Nahrung zur Verfügung steht. Meist fehlt ihnen Eiweiß. In seinem Buch »Die Befreiung der Tiere« zeigt der australische Philosoph Peter Singer am Beispiel der Kalbfleisch-»Produktion«, daß neben den Qualen, denen die Tiere dabei ausgeliefert sind, diese Art der Eiweißerzeugung auch extrem uneffektiv ist. So muß man einundzwanzig Kilogramm pflanzliches Eiweiß an ein Kalb verfüttern, um ein einziges Kilogramm tierisches Eiweiß für den Menschen zu erhalten. Der US-Autor Frances Moore Lappe nennt in seinem Buch »Diet for a Small Planet« diese Landwirtschaftsmethode »eine umgekehrt arbeitende Eiweißfabrik«. Singer bezieht sich auf Schätzungen, nach denen
pflanzliche Nahrung den zehnfachen Eiweißertrag pro Hektar erbringt wie Fleisch, wobei bisweilen gar ein Verhältnis von zwanzig zu eins angenommen wird.
Bereits vor über zwanzig Jahren wurden in den USA Berechnungen veröffentlicht, daß eine Abnahme des Fleischkonsums der US-Amerikaner um nur 10 Prozent für die Dauer eines Jahres mindestens 12 Millionen Tonnen Getreide für die menschliche Ernährung freisetzen würde -genug zur Ernährung von 60 Millionen Menschen.
Dabei hat der massenhafte Fleischkonsum mit seinen direkten und indirekten verhängnisvollen Folgen für die ökologische und die Ernährungssituation auf der Erde eine relativ kurze Geschichte. Grundlage der bis etwa 1850 währenden vorindustriellen Zeit waren pflanzliche Nahrungsmittel. Allerdings war für die Masse der Bevölkerung die Kost sehr einfach, wenig abwechslungsreich und wesentlich stärker vom jahreszeitlichen Angebot abhängig als die heutige Ernährung. Agrarkrisen führten zwangsläufig zu Hungersnöten. Kein Wunder, daß die Arbeiterbewegung nicht gerade zum Vorkämpfer des Vegetaris-
Von Ingolf Bossenz
Drei bis fünf Prozent der Bevölkerung in den Industrieländern ernähren sich vegetarisch. Sie verzichten auf Fleisch und Fisch, viele auch auf Eier, Milch und Käse. Gründe für eine vegetarische Lebensweise sind gesundheitliche, ethische, religiöse. Aber kann der Vegetarismus auch einen Beitrag zur Lösung der sich weltweit zuspitzenden Ernährungskrise leisten?
Kommende Woche treffen sich in Rom die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer der Welternährungsorganisation (FAO). Fünf Tage lang beraten sie über Wege, die Lage der weltweit über 800 Millionen chronisch unterernährten Menschen zu verbessern. Im Vorfeld der Tagung warnte das Washingtoner Worldwatch-Institut vor einer sich verschärfenden Ernährungskrise. Untrügliche Zeichen dafür seien steigende Getreidepreise und sinkende Vorräte. Einer der Hauptgründe der fatalen Entwicklung: wachsender Verbrauch zur Versorgung der Nutztiere. Während dieser Trend großen Getreideproduzenten und -exporteuren wie den USA Superprofite bringt, gerät er für die armen Länder zur Katastrophe. So füllen rund 23 Millionen Tonnen auf der Südhalbkugel angebautes Getreide jedes Jahr statt leerer Menschenmägen europäische Futtertröge.
»Das Vieh der Reichen frißt das Brot der Armen.« Die Schauspielerin und Buchautorin Barbara Rütting bringt den »kriminellen« Fleischverzehr in den Industrieländern auf den Punkt. Auf einer Veranstaltung des Vegetarier-Bundes Deutschlands in Hannover anläßlich des bevorstehenden Welternährungsgipfels erinnerte die engagierte Umwelt- und Naturschützerin daran, daß täglich etwa 100 000 Menschen verhungern. Angesichts dieser Zahlen sei der Umweg der Aufnahme pflanzlicher Erzeugnisse über das Tier eine unverantwortliche Verschwendung. Eine Senkung der weltweiten Fleischproduktion um nur 10 Prozent würde genug Getreide freisetzen, um diese Menschen zu ernähren.
Freilich gibt es auch Leute, die das ganz anders sehen. So äußerte der Technikphilosoph Günter Ropohl unlängst in einer Fernsehsendung Zweifel, ob eine solche Verbesserung der Ernährungssituation überhaupt »wünschenswert« sei. Durch steigende Überlebensmöglichkeiten würde schließlich die schon jetzt vorhandene Übervölkerung der Erde noch vorangetrieben werden. Glücklicherweise gehören solcherart abenteuerliche Rechtfertigungen des Fleischverzehrs zu den Ausnahmen.
mus wurde und zunächst danach strebte, auch der Arbeiterfamilie mehrmals wöchentlich eine Fleischmahlzeit zu sichern. Hauptnahrungsmittel in Europa war seit dem 18. Jahrhundert die aus Amerika eingeführte Kartoffel. Karl Marx zählte selbige zu den »elendsten Produkten«, die deshalb so billig seien, »weil in einer auf das Elend begründeten Gesellschaft die elendsten Produkte das naturnotwendige Vorrecht haben, dem Gebrauch der großen Masse zu dienen«. Fleisch wurde zum Gradmesser von Wohlstand und gesellschaftlichem Ansehen. Der Kampf um das »Huhn im Topf« war eingebettet in die sozialen Auseinandersetzungen der Industrialisierungszeit.
Industrielle Fertigungsmethoden, Massentierhaltung, Einsatz von Chemie und Pharmakologie haben in rund 150 Jahren aus dem Luxusgut Fleisch ein alltägliches Nahrungsmittel in den Industriestaaten gemacht. Doch zeichnet sich ab, daß dieser Ära nur noch wenig Zukunft beschieden ist und die menschliche Gesellschaft diese global-parasitäre Art der Ernährung zumindest massiv einschränken muß. Agrarprofessor David Pimentel von der Cornell University in Ithaca (US-Staat New York) kommt zu dem Schluß, daß bei anhaltendem Bevölkerungswachstum künftige Generationen vegetarisch leben müssen. Die zunehmende Besiedlung ehemaligen Agrarlandes reduziere die Weiden für Rinder und anderes Vieh, aber auch die Anbauflächen für eine Vielfalt von Obst und Gemüse.
Angesichts der wenig erfreulichen Zukunftsaussichten auf dem Nahrungsmittelsektor hält die internationale Tierrechtsorganisation PETA eine Steuer auf den Verzehr von tierischen Nahrungsmitteln für dringend geboten. Freilich sind solche und andere administrative Maßnahmen angesichts der Macht der Fleischkonzerne politisch kaum durchsetzbar Auch für die Staatsund Regierungschefs beim römischen FAO-Gipfel wird die vegetarische Alternative kein Thema sein.
Bleibt die Hoffnung auf eine Bewegung »von unten«, in der immer mehr Menschen aus Einsicht in die weltweit verheerenden Folgen des exzessiven Fleischkonsums ihre Ernährungsweise überdenken. Menschen, die auch der Erkenntnis folgen, die Alexander von Humboldt vor über 150 Jahren so formulierte: »Wo ein Jäger leben kann, können zehn Hirten leben, hundert Ackerbauern oder tausend Gärtner « Weshalb Barbara Rütting auf dem Treffen in Hannover an die »Vegetarier aller Couleur« appellierte, sich zu »vernetzen« und zu handeln: »Tun, tun, tun!«
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