Ich bin überzeugt, dass Literatur die Welt verändert

Im Gespräch mit dem Schrifsteller Rafik Schami

  • Lesedauer: 9 Min.
Schon seit langem gehört der 1946 in Damaskus geborene Schriftsteller Rafik Schami zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren. Über 15 Bücher, die je etwa zur Hälfte in Syrien und in Deutschland spielen, hat er bisher geschrieben. In 23 Sprachen, darunter in Arabisch, Chinesisch, Katalanisch, Koreanisch und Urdu, wurde er übersetzt. Zu den bekanntesten Werken zählen: »Der Fliegenmelker« (1985), »Eine Hand voller Sterne« (1987), »Erzähler der Nacht« (1989), »Der ehrliche Lügner« (1992), »Reise zwischen Nacht und Morgen« (1995), »Gesammelte Olivenkerne« (1997) und »Die Sehnsucht der Schwalbe« (2000). Jetzt erschien sein Opus magnum, der Roman »Die dunkle Seite der Liebe« (Carl Hanser Verlag, München). Bestehend aus 9 Büchern, 28 Kapiteln und 304 Geschichten, handelt es sich um ein Werk von großer historischer Perspektive und menschlicher Dramatik, durch das sich Rafik Schami erneut als ein Brückenbauer zwischen Orient und Okzident ausweist.
ND: Herr Schami, Carl Zuckmayer sprach davon, dass schon fünf oder sechs Jahre ununterbrochener Abwesenheit eines Menschen von seinem Heimatland ihn diesem entfremden würden. Sie leben jetzt über drei Jahrzehnte in Deutschland. Wie gelingt es Ihnen, Ihre syrische Identität zu bewahren?
Rafik Schami: Was Carl Zuckmayer sagte, entspricht den Tatsachen. In einem syrischen Lied heißt es: »Wenn du gehst, geht dein Platz mit dir weg - kehre nicht zurück, denn dein Platz ist schon besetzt.« Exil und Tod kann man nicht lernen. Im Grunde setzt der Exilant sein Leben aufs Spiel, wenn er beschließt zu flüchten. Dieses Gefühl hatte ich damals beim Überqueren der Grenze Syriens. Seither halte ich meine Verbundenheit mit Syrien, die eher den Charakter einer Sucht trägt, lebendig. So denke ich seit nunmehr 34 Jahren jeden Morgen beim Erwachen an die Morgendämmerung in Damaskus. Es gehörte zu den schönsten Augenblicken meiner Kindheit, frühmorgens im Bett zu liegen und durch das Fenster unseres Hauses zu beobachten, wie die Stadt erwacht. Ein weiterer Versuch, meinen Bezug zu Syrien aufrechtzuerhalten, besteht darin, dass ich mich beim Schreiben meiner Bücher mit den Klängen klassischer arabischer Musik umgebe. Und schließlich drängt es mich, mindestens einmal in der Woche mit Damaskus zu telefonieren: Ich höre den neuesten Klatsch, erfahre, was gerade gekocht wird und welcher Kummer meine Angehörigen und Freunde plagt.

An Ihrem Roman »Die dunkle Seite der Liebe« haben Sie von allen Ihren Büchern am längsten gearbeitet...
Die Schwierigkeit lag darin, die Stimme, den Atem des Erzählers zu finden. Immerhin umspannt der Roman einen Zeitraum von 110 Jahren arabischer Geschichte und erstreckt sich über drei Generationen Muslime und Christen. Das Thema war mir klar: Ich wollte eine lebendige, körperliche Liebesgeschichte schreiben. Aber man kann in Arabien keine Liebesgeschichte erzählen, ohne die Diktatur zu berücksichtigen und daran zu erinnern, wie sie die Menschen deformiert. Und vor allem kann man nicht über Arabien schreiben, ohne etwas über die Sippenherrschaft zu wissen. Die Machtmechanismen der Sippe und die Psyche der gedemütigten arabischen Männer zu ergründen, stellte eine wesentliche Vorarbeit zu dem Roman dar. Es gibt inzwischen interessante psychologische Studien von arabischen Autoren, die in Paris studiert haben und der Frage nachgegangen sind, warum die Männer ihre Ehre nicht in die Verteidigung ihrer Würde, sondern in das Jungfernhäutchen der Frau legen, die sie im Übrigen samt und sonders verachten.

Inwieweit hat sich, seitdem Sie in Deutschland leben, Ihre Sichtweise auf die arabische Welt und ihre Lebensform verändert?
Wer außen steht, sieht mehr als der, der im Strudel steht. Er sieht einiges verstellt, und so muss man bescheiden bleiben in seinem Urteil. Grundsätzlich aber bin ich radikaler geworden in meiner Härte gegen die bestehenden Zustände, gnadenloser gegenüber der Diktatur und kompromissloser, was die Rechte der Frau betrifft. Wenn das Fernsehen Bilder von Frauen zeigt, die gesteinigt werden, dann empört mich das zutiefst. Und es wirkt auf mich viel demütigender, als dies der Fall wäre, wenn ich in Syrien lebte. Dass meine ganze Kultur nur als solche in Erscheinung tritt, die Frauen steinigt, Waffen kauft und Öl exportiert, formt einen inneren Widerstand. Und wenn ich ein Kapitel schreibe über die Ehre der Männer, dann sind das nicht mehr als zwei Seiten, aber es liegt mein ganzes Gift darin.

Sie sagten einmal, dass »die Phantasie nicht nur die Wirklichkeit verändert, sondern sie auch neu schaffen kann«. Wollen Sie mit Ihren Büchern die Wirklichkeit verändern oder schaffen Sie sie neu?
Dies zu beurteilen, möchte ich den Kindern überlassen, die in zehn, fünfzehn Jahren sagen: Rafik Schami hat etwas gebracht, was noch nie zuvor da war, nämlich das mündliche Erzählen in den Mittelpunkt der Literatur zu stellen. Das wurde anfänglich belächelt, manchmal sogar verachtet. Doch ich bin unbeirrt meinen Weg gegangen. Die Grenze zwischen Verändern und Neu-Schaffen ist fließend. Aber ich bin überzeugt, dass Literatur durch ihre Schönheit, ihre Heiterkeit und ihre Trauer die Herzen der Menschen zu ergreifen vermag und die Welt verändert. Sonst hätte ich kein Wort geschrieben. Natürlich darf man von einem Roman keine direkten politischen Umwälzungen erwarten. Literatur ist eher ein stilles Bemühen um Verstehen des Anderen.

Nicht zuletzt mit Ihren Büchern ist im deutschen Sprachraum eine neue Literatur entstanden - eine Literatur deutsch schreibender Autoren aus den verschiedensten Ländern. Welches Gewicht messen Sie dieser von Ihnen einmal als »Gastarbeiterliteratur« bezeichneten Literatur bei?
Der Begriff »Gastarbeiterliteratur« war eine satirische Umkehrung des Stigmas, mit dem die Gastarbeiter vor 30, 40 Jahren in Deutschland bedacht wurden. Denn »Gastarbeiterdeutsch« war eine abwertende Bezeichnung für das gebrochene Deutsch, das die Italiener, Jugoslawen und Türken sprachen, die hierher kamen, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien zu verdienen. In einer Art Trotzreaktion haben wir damals dieses »Gastarbeiterdeutsch« zur Literatursprache erhoben. Es bildete sich eine Art literarische Sammelbewegung, die Pionierarbeit leistete. Von daher sollten wir nicht länger an dem Begriff deutsche Literatur festhalten, sondern von deutschsprachiger Literatur sprechen.

Einen »offenen Garten« hätten die Gastarbeiterautoren aus dem »heiligen Gebäude der Literatur« gemacht, bemerkten Sie einmal. »Einen, der viele Stimmen, Düfte, Stacheln und Farben hat.« Doch wird er auch betreten?
Der Erfolg, den ich mit meinen Büchern im deutschen Sprachraum erlebe, ist ein Ausnahmeereignis. Die meisten anderen »Gastarbeiterautoren« werden leider kaum zu Lesungen eingeladen. Der Buchmarkt hat sich in den letzten Jahren sehr verhärtet, und in den früher experimentierfreudigen Buchhandlungen liest nur mehr die »Elite der Prominenz«: von Ingrid Noll, Elke Heidenreich über Mario Adorf bis zu Hellmuth Karasek und - Rafik Schami. Und so kann der »offene Garten« gar nicht betreten werden, weil kaum jemand erfährt, dass es ihn überhaupt gibt. Dennoch muss man als Autor in der Utopie leben, dass dieser Garten einmal betreten werden wird, um nicht in Melancholie zu verfallen.

Aber auch von der Literaturkritik wird diese »Gastarbeiterliteratur« offenbar eher als eine randständige Literatur angesehen...
Das ist eine absolut richtige Feststellung. Goethe hat den genialen Begriff der »Weltliteratur« geprägt. Er beschäftigte sich nicht nur mit Italien und Griechenland, sondern auch mit dem Islam und mit der persischen Dichtung. Damit gab er dem Begriff Weltliteratur einen bis heute nicht übertroffenen Horizont: Weltliteratur ist eine Einladung der Besten zu sich nach Hause. Doch lassen sich die Feuilletons nur in höchst seltenen Fällen von diesem humanistischen Gedanken leiten. Sie verhalten sich erheblich reservierter gegenüber Literaturen, die nicht im Mainstream liegen, als es die Verlage tun. In den Feuilletons herrscht zumeist ein strenger Kanon. Fünf, sechs Länder besetzen 95 Prozent der Buchvorstellungen: Deutsche Literatur von in Deutschland geborenen Autoren, amerikanische Literatur, englische, die Spitzen der italienischen wie Umberto Eco, holländische, französische Literatur. Die Literaturen Australiens, Afrikas, Chinas, Indiens, Südostasiens, Japans, des ganzen Mittleren Ostens finden nur in den seltensten Fällen Erwähnung.

Man spricht heute viel von Interkulturalität und gegenseitiger Bindung der Völker. Aber bringt diese neue »globale Nähe« auch gegenseitiges Verständnis mit sich?
Die Leistungen der arabisch-islamischen Kultur werden hier zu Lande kaum wahrgenommen. Im Vergleich zu all den wunderbaren Orientreisenden, Gelehrten und Schriftstellern im 18. und 19. Jahrhundert fehlt es einem großen Teil der heutigen Arabisten, Orientalisten und Islamexperten an Weitblick und Weltoffenheit. Die heutigen Berichte und Urteile über den arabisch-islamischen Raum sind geprägt von Überheblichkeit und nicht selten von Unkenntnis. Man hat sich der interkulturellen Verantwortung entzogen, und ich sehe keine Anzeichen, die auf eine baldige Umkehr hindeuten.

Andererseits bietet gerade die arabisch-islamische Welt dem Westen immer neue Ansatzpunkte zur Kritik, nicht zuletzt auch im Hinblick auf die kulturelle Selbstzerstörung. Wie schätzen Sie heute die Lage der arabischen Kultur ein?
Um die arabische Kultur zu verstehen, muss man den Einfluss der Wüste berücksichtigen. Es war die Wüste, die in den Arabern eine tiefe Liebe zum Wort und zum Klang erzeugte. Lange vor dem Islam genossen Dichter und Erzähler in Arabien ein hohes Ansehen. Um jedoch unter den menschenfeindlichen Bedingungen der Wüste zu überleben, mussten sie sich unter den Schutz der lokalen Sippenfürsten begeben. Die Beziehung zwischen Dichter und Fürst war die eines Bediensteten zu seinem Herrn. Damit befand sich die Kultur in einer permanenten Abhängigkeit vom Herrscher, eine unabhängige Existenz war ihr unmöglich. War der Herrscher offen und visionär, trieb er die Kultur voran. Doch seit der Entkolonialisierung hat die arabische Welt mehr oder weniger Analphabeten als Herrscher. Sie gelangten auf dem Weg der militärischen Laufbahn als Offiziere und zumeist durch einen Putsch an die Spitze der Staaten. Und diese so genannte »Elite«, für die Kultur, Kunst, Bücher bedeutungslose Begriffe sind, bestimmt nun das Schicksal der arabischen Welt. So hat der arabische Despotismus die eigene Kultur gründlich deformiert. Ihre totale Zerstörung erfolgt im Wesentlichen von innen heraus und nicht, wie manche meinen, durch äußere Einwirkungen. Wir müssen uns einmal vor Augen führen, dass die arabische Welt 45 Prozent der Weltproduktion an Waffen kauft, es aber keine anständigen Schulen gibt, keine anständige medizinische Versorgung, keine anständigen Straßen usw. Um in der Moderne anzukommen, müssen sich die arabischen Völker von dieser Herrschaftsstruktur und Sippenkultur befreien. Gelingt ihnen das nicht, sehe ich für die Zukunft der arabischen Welt schwarz.

Auch für die arabische Literatur?
Ja, nicht nur die Diktatur, sondern auch die Autoren selbst sind verantwortlich für den Niedergang der Literatur in ihrem Land. Die Zensur ist schlimm. Doch sie hat noch nie zum Niedergang einer Literatur geführt. Vernichtend aber ist die Selbstzensur. Der arabische Schriftsteller ist ein Diener des Diktators. Ich kenne keinen der heute groß genannten arabischen Staatsdichter, der in einem arabischen Land lebt und nicht vor den Diktatoren gebuckelt hat.

In welcher Form sollte der Westen hier interkulturelle Verantwortung übernehmen?
Aus meiner Sicht hätten insbesondere die demokratischen Staaten Europas als Anrainer des Mittelmeeres eine ähnliche Verpflichtung gegenüber den Ländern des arabischen Raums, wie sie sie gegenüber Ostmitteleuropa erfüllt haben. Dort wurde die Opposition nicht allein mit Geld, sondern mit einer Vielzahl an immateriellen Gütern unterstützt, bis hin zu den kirchlichen Beziehungen. Warum geschieht das nicht im Fall der arabischen Länder? Es ist schon erstaunlich, mit welchem Geschick es die europäische Politik zu vermeiden weiß, der Opposition in den arabischen Ländern moralisch und praktisch Beistand zu leisten. Statt sich um eine demokratische Entwicklung zu bemühen, liefern die Europäer Waffen an die herrschenden Regime und reglementieren oder sperren den Import von Waren. Gerne flüchtet sich der Westen dann in Klischeebilder von der »arabischen Mentalität«, die eine solche Vorgehensweise verhindern würde. Wieso? Welches Volk will keine Freiheit? Welches Volk will nicht, dass seine Kinder in Frieden aufwachsen? Welche Kultur wird per se von Selbstmördern bestimmt?

Interview: Adalbert Reif
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