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Menschen Mächte

und Nach 50 Jahren kehrt Ruth Beck, vorgestern zur Siegerin und gestern zur Besiegten erklärt, in ihre einst deutsche Heimat Eisingen, das heute polnische Tlukomy, zurück und wird dort wie eine alte Freundin empfangen

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Ruth Beck in Eisingen, 1944

In ihren Träumen hatte sie das Bild immer wieder gesehen: das kleine Haus, mit dem Erkerchen in der Mitte. Ein hoher Giebel, eine große Linde, die Ziegelmauern der Ställe daneben, der Birnbaum im Garten. Jetzt geht sie auf die Tür zu, wie im Traum. Kleine flache Mauern flankieren die beiden Stufen wie damals. Sie setzt sich, und ihre Hand streicht über den groben Putz. Sie schließt die Augen und spürt den bröckelnden Kies. Sie wacht nicht auf, es ist kein Traum.

Dann steht sie im Flur, auf den Fliesen, die sich ihrem Auge so eingeprägt hatten. Jetzt ist das bläuliche Muster verblaßt, manche Vierecke mit grauem Beton ausgebessert. Ihr Zimmer - es ist ihr fremd. Die Träume sagten anderes. Aber im Hof kennt sie sich wieder aus. Da - der Keller mit seiner Außentür »Da haben die Zigeuner die Butter rausgeholt.« Wo ist der Apfelbaum, der mit den roten und grünen Äpfeln? Er ist groß und knorrig geworden und trägt kaum mehr Die Pumpe steht noch, spendet aber kein Wasser Der Pferdestall ist auch noch da. »Darf ich mal reingehen? Hier war die Häckselkiste. Und da hinter der Scheune, ein Reihe Pflaumen. Es ist alles noch.. « Sie holt tief Luft, die Augen schwimmen: »Ein Stück Heimat.«

Ruth Beck 1 ) wischt die Tränen weg und läuft weiter Ruhelos, als könnten ihre Erinnerungen vergehen, sie etwas aus ihren Träumen nicht wiederfinden. Im Garten stampft sie eine Kartoffelreihe hinunter, Brennesseln schlagen an ihre Beine. Sie verschwindet in der grellen Sonne. »Laß sie gehen«, sagt der kleine Mann, der sie eingelassen hatte. »Alte Heimat muß sie sehen.« Sie schreitet ihr Leben ab - rückwärts, zu den Wünschen und Sehnsüchten der Jugend.

Der Pole ruft seiner Frau etwas zu, und sie beginnt den Tisch zu decken, draußen, unter dem Birnbaum. Er konnte sich an die Deutsche nicht erinnern, die da so plötzlich von etwas Besitz nahm, das ihm gehörte, aber wohl auch ihr Sie aber hatte nach einigen Fragen auf ihn gezeigt: »Du bist, Sie sind. Synnek, Söhnchen.« So hatten die Mädchen den Kleinen immer genannt. Er war 15 Jahre jünger als sie, ein Kind eben, als sie schon Frauen wurden. Jetzt hat er selbst Enkel und wohnt hier, seit sein Vater starb. Ruth weiß noch, daß der kein Bauer gewesen war, mit Stoffen und vielem anderen gehandelt hatte. Und daß Synneks Mutter gut nähen konnte, auch ihr Hochzeitskleid, 1940, da war Synnek gerade acht gewesen.

Krauses gehörten in Eisingen, das die Polen Tlukomy nannten, zu den alteingesessenen Familien. Ruth weiß nicht, seit wann sie dort lebten. Ihr Vater hatte schon vor dem Krieg den Hof ausgebaut, und noch prangt am Stall das Signum: EK - mit der Jahreszahl des Baus: 1909 Sie durften auch bleiben, als der Versailler Vertrag diesen Teil Westpreußens dem neuen Polen zuschlug. Andere, die erst zehn oder zwanzig Jahre hier waren, mußten wieder gehen. Auf 500 000 Hektar Land lösten Polen die deutschen Besitzer ab. Ruth sieht noch die vollbeladenen Pferdefuhren und erinnert sich, daß manchmal am Wegrand ein Stück zurückblieb, eine Tasse oder ein Löffel - für die Kinder aufregende Beutestücke. Von 1918 bis 1921 wanderten 600 000 Deutsche ab, bis 1926 noch einmal fast 200 000.

Die kleine Ruth merkte davon nicht viel. Ihre Freundinnen sprachen Deutsch oder Polnisch, Janina, Zygmunt oder Dominik waren für sie normale Namen. Sie besuchte eine deutsche Schule, die allerdings wie Hunderte andere Anfang der 30er Jahre geschlossen wurde. Die Polonisierung verlief in Tlukomy sanft, fast unbemerkt; die ansässigen Deutschen sollten assimiliert werden, und nicht we-

Ruth Beck in TMomy, 1996

nige waren dazu bereit. Ruths Bruder Arthur spielte in der deutsch-polnischen Blaskapelle, und wenn Kreude gekocht wurde, ein würziges Mus aus Zuckerrüben, dann liehen sich die deutschen und polnischen Nachbarn gegenseitig ihre Kessel.

Schon ein gutes Dutzend Kilometer weiter, in Dworczakowo, südlich der Netze, war das anders. Hier lebten fast nur Deutsche, die ihren Ort Hoffmannsdorf nannten und in den langen Häuserreihen dieses Straßendorfes keinen »Polacken« haben wollten. Als der polnische Bürgermeister in die Schule zog und einige Landsleute mitbrachte, kam es fast zum Aufstand. Einer der deutschen Bauern war so aufgebracht, daß der Bürgermeister die Pistole zog und einen Warnschuß über ihn hinweg feuerte.

Aus Hoffmannsdorf kam auch Gustav, der Sohn jenes stolzen Bauern, der sich unter dem Pistolenschuß duckte. Er hatte bald ein Auge auf Ruth, die blonde Elsingener Schönheit, geworfen. Auf der kleinen Treppe, auf der sie sich jetzt des Wachseins versichert hatte, saßen sie damals. Als er später ging, vergaß er seine Galoschen. »Der hat mit Wiederkommen gerechnet«, sagte der Vater Und behielt recht. Auch davon hat Ruth mehr als ein halbes Jahrhundert geträumt.

»Hier war es. Hier muß es gewesen sein.« Sie streckt den Arm aus, zeigt auf ein graues Wartehäuschen, ein einsamer Baum daneben. Von der ausgefahrenen Schotterstraße geht ein Hohlweg ab, mit zwei tiefen Furchen, dazwischen wächst Gras. Ruths Gesicht glüht. »Hier habe ich auf den Gutti gewartet. Ich war ihm entgegengefahren und sah ihn kommen. Ich wollte mich verstecken.« Sie und Gustav hatten sich damals, im Oktober 1940, verabredet, um nach Wissek zu fahren. Sie wollten das Aufgebot für ihre Hochzeit bestellen. Sie kauerte sich, und dann kam er angejagt, konnte es nicht eilig genug haben und raste vorbei. Ruth sprang auf die Straße, winkte und rief, aber er sah und hörte nichts. »Ich habe ihn erst am Rathaus wieder gesehen.«

Das ist in Erinnerung geblieben - viel mehr als alles andere. Im September 1939 hatten deutsche Soldaten Polen überrannt und schnell zur Kapitulation gezwungen. Wissek, dieses kleine Provinzstädtchen, hatte Ruth bis dahin nur als Wysoka gekannt, aber nun waren dieser Ort und noch viel mehr dem Deutschen Reich eingegliedert worden - als Reichsgau Danzig-Westpreußen. Jene

Deutschen, die 21 Jahre unter polnischer Regierung gelebt hatten, konnten den Spieß umdrehen. Und sie taten es gründlich. Bis zum 26. Oktober 1939 fanden 764 Exekutionen statt. In acht Wochen starben 20 000 Polen.

Wer dem ersten Ausrottungsfeldzug entging, wurde von den Höfen vertrieben, oft zur Zwangsarbeit verschleppt; viele endeten in Konzentrationslagern. Es wurde Platz für Deutsche geschaffen - auch für den jungen Gustav Beck. Ihm und seiner kleinen Familie war es zu eng auf Vaters Hof mit seinen 70 Morgen. Die Sciezkas aber, Polen, saßen noch auf ihrem mehr als doppelt so großen Anwesen in Niezychöwko, das nun wieder Waldheim hieß.

Die Gelegenheit war günstig, die Formalitäten schnell erledigt. »Polen und Juden haben sich in den eingegliederten

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