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  • Politik
  • Rezensiert: Wozu die Deutschen nach 1945 die Juden gebrauchten

Gedächtnistheater

  • Michael Brie
  • Lesedauer: 6 Min.

Über zwanzig Jahre war die Vernichtung des europäischen Judentums während des Nationalsozialismus in Deutschland West wie Ost nur eine Randerscheinung eines viel größeren Übels: des Krieges, der Vertreibung und Spaltung Deutschlands für die einen, der Herrschaft der aggressivsten Kreise des Monopolkapitals für die anderen. Dann brach eine »Epidemie des Gedenkens« aus. Zum 50. Jahrestag der Kristallnacht im November 1988 fanden in der Bundesrepublik über 10 000 Gedenk--akte statt! Und auch in der DDR wurde ein Staats(Trauer-)akt begangen und der Neuaufbau der Synagoge in der Berliner Oranienburger Straße beschlossen.

»Über keine gesellschaftliche Gruppierung in Deutschland ist soviel geschrieben und keine dabei so beschwiegen worden wie die Juden.« So lautet der erste Satz des vor einiger Zeit im Rotbuch-Verlag erschienenen Buches »Gedächtnis--theater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung« von Y. Michal Bodemann. Es bedurfte eines US-Amerikaners, der nicht in Vietnam einen verbrecherischen Krieg führen wollte und nach Toronto ging, teils in Kanada und teils in Deutschland lebt, von 1987 bis 1991 Korrespondent des Amerikanischen Jüdischen Komitees für Deutschland war, um ein öffentliches Geheimnis aufzudekken: Das reale Leben der wirklichen Ju-

den in Deutschland »existiert noch immer vor allem in seiner Verneinung«. Die Juden werden heute mehr als je gebraucht - aber als fiktive Wesen, als Symbole für die Identitätsfindung der Deutschen in der Bundesrepublik.

Bodemanns Analyse tut weh. Anschaulich und im besten Sinne populär wendet er sich der Frage zu, wie die Deutschen und die Juden nach 1945 an den Bildern des jeweils anderen und vor allem an den Selbstbildern gearbeitet haben. Und er fördert Erstaunliches und Ungeheuerliches zutage. So, wenn er nachweist, daß die »ZEIT« zwischen 1946 bis 1952 die Juden zunächst vergaß, sich dann dazu verstieg, die Deutschen als diejenigen darzustellen, die von der Völkergemeinschaft verachtet und nun selbst wie »Juden« behandelt wurden. Daß sie einzelne »verzeihende« Juden als Wohltäter hofierte und jene, die nicht vergessen wollten, als Schädlinge bezeichnete. Und daß sie letztlich die Juden in Palästina/Israel als »wilde Orientalen« denunzierte. 1951 heißt es in einem Artikel über den Chefankläger bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß, Robert M. W Kempner, in nazistischen Vokabular und unter der Überschrift »Einem Schädling muß das Handwerk gelegt werden«: dieser sei »geschmacklos«, »großmäulig« und ein frecher Jude, der die Stirn gehabt habe, »uns zu antworten«.

Detailliert weist Bodemann nach, wie die Juden nach 1945 durch die Alliierten erst in Lagern gehalten, dann zu einem

Feld deutscher bürokratischer Patronage und schließlich zum Gegenstand eines »Gedenkstättenjudentums« gemacht wurden. Er zeichnet auch den Weg der jüdischen Gemeinschaft in der DDR nach. Dabei spielten die Slansky-Prozeß und Stalins antisemitische Kampagne eine entscheidende Rolle: »Viele Juden und jüdische Kommunisten, die Führung aller größeren Gemeinden eingeschlossen, also die organisatorischen Intellektuellen wie auch die Funktionäre, waren bis spätestens Frühjahr 1953 aus der DDR geflohen, und während der folgenden 25 oder 30 Jahre ihrer Existenz wurde die jüdische Gemeinschaft zu einem einfachen Hinterhof der Partei.« Es wurde die Hegemonie von Staat und Partei über die jüdische Gemeinschaft durchgesetzt, ihr Gedenken verstaatlicht und die Präsenz der Juden genutzt, um dem antifaschistischen Selbstverständnis der DDR Substanz zu verleihen. Als reale Gruppe blieben sie faktisch unsichtbar Zugleich wäre zu zeigen, wie auch in der DDR Christen, aber auch Mitglieder der SED in den späten siebziger und den achtziger Jahren begannen, sich eigenständig Geschichte und Gegenwart des Judentums in Deutschland und Europa anzueignen und Positionen zu entwickeln.

Am eindringlichsten und spannendsten sind Bodemanns Gedanken über die Verstaatlichung des Gedenkens in der Bundesrepublik vor und nach 1989. Er verweist auf die Tatsache: »Daß ein Volk derart seiner eigenen Verbrechen gedenkt, ist ein historisch einzigartiges Phä-

nomen. Es gibt keinen vergleichbaren Fall, weder in Japan noch Italien. Auch die USA gedenken ihrer Verbrechen in Vietnam und andernorts nicht.«

Und zur gleichen Zeit wird von den gleichen Politikern die Verjährungsfrist für Naziverbrechen unterstützt, werden an SS-Gräbern Kränze niedergelegt, wird die Erinnerung an die Vernichtung des europäischen Judentums nicht in das Grundgesetz aufgenommen, wurde noch 1988 den Vertretern der jüdischen Gemeinde in Deutschland die Bitte abgeschlagen, auf einer Gedenkfeier des Bundestages zu sprechen. Zu hören war die unglückselige Rede von Philipp Jenninger, dem damaligen Bundestagspräsidenten.

Wieso dann also diese Omnipräsenz von Gedenkfeiern, von Grußbotschaften, von Planungen für eine neue große Gedenkstätte in Berlin? Wieso dieses ostentative und oftmals zum Pompösen neigende »Gedächtnistheater« der Bundesrepublik Deutschland? Bodemann stellt die These auf, »daß die gesamte Gedenkkultur um die Kristallnacht sehr wenig mit dem real existierenden Judentum zu tun hat, daß dieses Gedenken vielmehr als wichtiges Element in der neuen deutschen Identitätspolitik fungiert, Nationales Gedenken bildet nationale Identität.« Den Juden in und außerhalb Deutschlands rät er zur Abstinenz gegenüber diesem Gedächtnistheater. Sie hätten »zur Glorifizierung oder zur Bewältigung der deutschen Vergangenheit keinen Beitrag zu leisten, und sie können dies auch nicht«.

Bodemanns Analyse ist aufklärend analytisch. Hinter den Phrasen wird die symbolische Politik des Gedenkens sichtbar gemacht, wird gezeigt, wie im Reden über »Schuld« und »Verantwortung«, wie über die Definition derer, die als »Juden«

bezeichnet werden, gerade nicht eigentlich diese gemeint sind, sondern eine Selbstdefinition der »Deutschen« erfolgt. Wie also vor allem an der eigenen Identität als Nation gearbeitet wird - mit gro-ßem staatlichem und öffentlichem Aufwand.

Sehr aufmerksam sollte betrachtet werden, ob im Zuge der neokonservativen Wende vor und nach 1989 mit einer Politik der »Normalisierung« der deutschen Politik nicht eine Wende zurück eingeleitet wird, ob die großen Gedenkfeiern dieser Zeit nicht zugleich darauf abzielen, nun einen Schlußstrich zu ziehen und sich vor allem aus den Interessen als Wirtschaftsstandort und Schutzmacht einer auf der Vorherrschaft des Nordens gegründeten Wirtschaftsordnung zu definieren. An die Stelle eines durchaus zwiespältigen Gedächtnistheaters, das den großen Vorzug hatte, der bundesdeutschen Politik Zügel anzulegen und sie zumindest partiell auf friedliche Mittel und die Menschenrechte zu verpflichten, träfe dann unter Umständen wieder der Egoismus der Mächtigen und Machtsüchtigen - denen die Verantwortung für die globalen Probleme der Gegenwart und die Solidarität der Völker abgeht.

Und der Verweis auf die geschichtliche Katastrophe würde nur noch dazu dienen, zu verdecken, daß es andere Wege in andere Katastrophen geben kann, deren gemeinsame Wurzel aber das Fehlen einer kollektiven, den Menschenrechten verpflichtete Ordnung der internationalen und nationalen Kooperation und eben nicht des enthemmten egoistischen Wettbewerbs ist.

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