Nascha komnata
Franziska Noll hat ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Ukraine geleistet. Ihre Erlebnisse mailte sie in die Heimat
Hallo liebe Freunde, Verwandte und Bekannte,
es kommt mir vor, als hätte ich in den vier Wochen, die ich jetzt als Freiwillige in der Ukraine bin, so viel erlebt wie sonst in einem halben Jahr nicht. Bei der Vorbereitung in Deutschland war uns immer wieder von den schlimmen Zuständen im Behindertenheim von Zyrupinsk berichtet worden. So schlimm sind sie leider wirklich - in den Gruppen, in denen wir arbeiten.
In diesem Heim wohnen etwa 230 behinderte Kinder und Jugendliche. Bis sie 18 werden. Danach können sie Glück haben und eine Stelle finden, oder sie werden unmittelbar »weitergereicht« ins Altersheim. In der Ukraine gibt es fast keine Familien, die behinderte Kinder behalten. Denn gesellschaftlich bilden die Behinderten eine Randgruppe, die kaum Beachtung findet, und eine Familie mit Durchschnittseinkommen kann es sich selten leisten, für ein pflegebedürftiges Kind zu Hause zu bleiben oder auch nur Medikamente zu kaufen.
Sowohl die Art der Behinderungen der Kinder, als auch deren Ausprägung ist sehr unterschiedlich. So gibt es hier einige sehr lebensfrohe körperlich Behinderte, welche in die ins Heim integrierte Schule gehen, in den Pausen auf dem neuen wunderschönen Spielplatz hinter dem Haus herumtollen dürfen, manchmal Ausflüge in die Stadt oder an den See unternehmen. Diese Freuden bleiben den Kindern, mit denen wir arbeiten, verwehrt. Wenn Führungen durch das Kinderheim gemacht werden, das übrigens als bestes Behindertenheim der Ukraine ausgezeichnet wurde, wird der hintere Teil, in welchem sich unsere Liegegruppen befinden, stets ausgespart.
Der Grundsatz lautet anscheinend: Je weniger ein Kind kann, desto weniger muss man sich um es kümmern. Die Ernährung: Die Kinder bekommen teilweise den ganzen Tag lang gar nichts zu trinken. Ich nehme an, damit sie nicht so oft in die wenigen vorhandenen Stoffwindeln nässen. Es gibt Probleme mit dem Essen, denn einige (ukr. Sanitarki - d.R.) essen oft mit und stehlen Leckerbissen wie Wurst und Fisch, die es eh nur selten gibt. Die Sanitäterinnen die alle ohne Ausbildung arbeiten, stopfen den Brei mit einem großen Aluminiumlöffel in einem wahnsinnigen Tempo in die kleinen Kindermünder, auch mit Gewalt, wenn die einmal nicht wollen. Sehr wenige Kinder können ganz allein essen, und die meisten werden im Liegen gefüttert. Wir nehmen uns natürlich viel Zeit zum Füttern und einige Sanitäterinnen mittlerweile auch. Außerdem setzen wir alle Kinder, bei denen es geht, zum Essen aufrecht hin. Vor drei Tagen habe ich einen kleinen gebogenen Löffel gekauft, und damit bringe ich nun einigen Kindern das selbstständige Essen bei.
Der Toilettengang: Die Kinder werden oft sehr lange auf das Töpfchen gesetzt, das aussieht wie ein normaler kleiner Kochtopf, und einige von ihnen haben in Form des Töpfchens einen blauen Flecken am Po. Manchmal werden sie auch mit dem Kopf den ganzen Tag zur Wand gedreht oder mit einer Strumpfhose am Gitter des Bettes festgebunden. Von der Strumpfhosenbefestigung entstehen ab und zu rote Striemen an den Hüften der Kinder. Wenn wir so etwas entdecken, versuchen wir natürlich, etwas daran zu ändern, aber es gelingt nicht immer.
Mundhygiene und Hautpflege: Die Zähne der Kinder sind in einem unglaublich schlechten Zustand, viele Zähne sind braun, manche ganz verfault und schwarz. Bevor vor zwei Jahren die ersten Freiwilligen kamen, hat ihnen nie jemand die Zähne geputzt. Glück haben die Kinder, die den ganzen Tag auf einem Socken oder an anderen Dingen herumkauen, deren Zähne sind meist in Ordnung. Schlimm sieht es auch mit der Haut aus. Sie ist oft ganz schuppig und wund, sogar am Rücken und Bauch, und außerdem befand sich zwischen den Zehen und Fingern sehr viel Schmutz. Natürlich haben wir die Kinder ausgiebig gesäubert und cremen und ölen sie jetzt täglich. Ich habe auch angefangen, einige Kinder zu massieren, und sie genießen es sehr, werden ganz ruhig und spüren endlich mal ihren eigenen Körper, der den ganzen Tag nur im Bett liegt. Außerdem lagern wir die Kinder ab und zu um und wollen Polsterungen herstellen, damit sie auch mal in eine andere Liegeposition kommen. Es gibt aber auch einige Kinder, die in unseren Gruppen laufen oder kriechen können. Mit einigen üben wir fleißig das selbstständige Laufen.
Die Geräuschkulisse belastet mich sehr. Oft schreien die Kinder, brüllen oder quietschen, haben Anfälle oder rufen ständig nach mir. Es ist schwer zu ertragen, dass ich nicht allen Wünschen auf einmal nachkommen und nicht alle Probleme sofort lösen kann. Gestern tat es mir so sehr im Herzen weh, als ein Junge sich vor mich hinwarf und darum bettelte, mit zum Spaziergang kommen zu dürfen (er küsste mir sogar die Füße. Ich möchte nicht wissen, wer ihm das beigebracht hat). Es ging einfach nicht, mehr als drei Kinder konnte ich nicht mitnehmen. Mir selber und natürlich auch den Kindern tut der Spaziergang vor dem Mittagessen stets sehr gut. Ich finde die Vorstellung schrecklich, im Herbst und Winter nicht mehr rausgehen zu dürfen.
Natürlich gibt es aber auch einige wunderschöne Momente, die wir im Kinderheim erleben dürfen, bei denen manchmal auch Freudentränen kullern. Letzte Woche habe ich Seifenblasen mit ins Kinderheim genommen und alle vier Gruppen damit erfreut, die Kinder waren so glücklich. Heute hatte ich in einen Kissenbezug mehrere Luftballons gesteckt (wirkt ähnlich wie ein Wasserbett sehr entspannend) und einige Ballons zum Spielen verteilt. Plötzlich haben zwei Sanitäterinnen ausgelassen mit den Kindern und den Luftballons herumgetollt.
Die Direktorin des Heimes will uns Freiwilligen alle Freiheiten geben, die wir brauchen, um die Kinder besser (oder überhaupt) zu fördern und sie besser zu umsorgen. Von einigen Sanitäterinnen hat sie kein gutes Bild, und wir sollen anscheinend auch so eine Art Wachhund sein, damit sie nicht Essen und Kleidung, die für die Kinder bestimmt sind, stehlen oder die Kinder schlagen (was ich schon vier Mal erlebt habe). Unsere direkte Ansprechpartnerin im Heim, deren Namen ich im Moment nicht weiß, ist sehr bemüht. Letzte Woche hatten wir eine erste »Krisensitzung« und berichten von unseren Problemen mit einigen Sanitäterinnen. Sie versprach, mit ihnen darüber zu sprechen. Natürlich können wir deutschen Mädchen, die einfach alles besser wissen, nicht immer sagen: »Das dürfen Sie nicht machen, das ist nicht gerecht, das ist für die Kinder und nicht für Sie...« Zuerst müssen wir uns ein wenig einarbeiten und Vertrauen gewinnen.
Mein neues Zuhause war natürlich erst einmal eine Umstellung. Strom- und Wasserausfälle gibt es hier wöchentlich, fast täglich, aber nur für zwei bis drei Stunden. Als wir Ende letzter Woche wegen eines Sturmes eine ganze Nacht und einen halben Tag lang keinen Strom und kein Wasser hatten, war das für uns natürlich unangenehm, aber für das Behindertenheim bedeutete es ein völliges Chaos. Denn so konnten die Windeln nicht gewaschen werden, und die Kinder lagen teilweise den ganzen Tag im nassen Bett, das Essen verspätete sich um Stunden, wir konnten die Kinder nicht waschen oder ihnen die Zähne putzen.
Die Stimmung in unserer Mädels-WG ist manchmal entspannt und manchmal auch ein wenig anstrengend, da ich kein eigenes Zimmer habe. Wir vier Freiwilligen tauschen uns oft über unsere Arbeitserfahrungen aus. Das tut gut, denn sonst kann uns wohl niemand so richtig verstehen. Zur Ukraine selbst kann ich bisher nur wenig erzählen, da wir noch nicht viel rumgekommen sind und ich mir nach vier Wochen noch kein Urteil bilden möchte. Nur eins steht fest: Die Ukraine ist ein Land voller extremer Kontraste. Eine Rentnerin muss hier von 15 Euro im Monat leben. Aber wenn wir mit den klapprigen Bussen auf den holprigen Straßen fahren, dann überholen uns auch einige teure Mercedesse, deren Besitzer den edelsten Schmuck und die feinsten Klamotten tragen und wunderschöne Villen besitzen, gleich neben der alten moosigen Bretterbude der Rentnerin. Die meisten Leute können gar nicht begreifen, warum deutsche Mädchen überhaupt in die Ukraine kommen. Für einige Ukrainer ist Deutschland so eine Art Paradies. Es ist komisch, damit umzugehen. Leider gibt es auch Leute, die uns anpöbeln oder mit einem Hitlergruß verabschieden. Allerdings sind das Ausnahmen. Merkwürdiger Weise hört man von vielen Ukrainern selten ein schlechtes Wort über die Nazizeit. Unter Hitler sei wenigstens alles »ordentlich« zugegangen, meinen sie.
Dezember 2003
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![]() | »Meine Aufgabe sehe ich darin, den Kindern viele schöne Momente zu schenken...« |
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unglaublich, wie schnell die Zeit vergeht! Ein viertel Jahr bin ich nun schon in der Ukraine und kann sagen, ich habe mich eingelebt, bin aber immer noch fähig, mich jeden Tag neu zu wundern. Am meisten wundere ich mich zur Zeit darüber, dass ich nicht mit diesem ganzen Weihnachtskram überschüttet werde wie in Deutschland zu dieser Zeit. Vielleicht bin ich gerade deshalb dieses Jahr schon so früh in weihnachtlicher Stimmung. Wir haben am 1. Advent unsere ganze Wohnung geschmückt und summen täglich Weihnachtslieder.
Als ich die ersten Überlegungen zu meinem zweiten Bericht anstellte, war ich selbst überrascht, wie sich Belastungen und Problembereiche inzwischen verschoben und verändert haben. So kann ich zum Beispiel von überwiegend positiven Erlebnissen bei meiner Arbeit im Kinderheim berichten. Erstens: Die Kinder werden nicht mehr so lange auf dem Topf sitzen gelassen und öfter frisch gewindelt. Zweitens: Die Sanitäterinnen dürfen sich nun ganz offiziell nicht mehr von dem Essen für die Kinder nehmen. Drittens: Es werden immer öfter kleine Löffel von den Sanitäterinnen zum Füttern benutzt. Viertens: Die Kinder bekommen regelmäßig Tee zu trinken. Fünftens: Sie werden nur noch selten festgebunden, und wenn wir es entdecken, dann machen wir sie sofort los. Durch diese vielen Fortschritte und durchs tägliche Eincremen ist die Haut der Kinder viel besser geworden. Sechstens: Wir bekommen, sobald der Anbau im Kinderheim im Januar oder Februar fertig gestellt ist, einen eigenen Raum, den wir für die Kinder ausstatten dürfen. Dafür mussten wir und auch schon unsere Vorgängerinnen am härtesten kämpfen. Sicherlich sind viele Veränderungen, die wir jetzt erleben, auch Früchte der Arbeit unserer beiden Vorgängergenerationen, Veränderung braucht eben Zeit. Das Zimmer soll ein Platz zum Entspannen und Loslassen für die Kinder werden, der aber trotzdem eine Möglichkeit zum Spielen und Lernen bietet.
Das Spazierengehen ist uns auch weiterhin erlaubt, wenn der Arzt kontrolliert hat, ob die Kinder auch dick genug eingepackt wurden.
Das schönste Erlebnis in den letzten Wochen war wohl der Tag, an dem Julia (acht Jahre alt, aber so groß wie eine Zweijährige) das erste Mal allein gegessen hat. Ich weiß nicht, ob es nachvollziehbar ist, wie sehr ich mich über diesen kleinen Fortschritt gefreut habe. Es ist so bewegend mitzuerleben, wie die Arbeit Früchte trägt, besonders wenn sie so lange reifen mussten. Auch die Sanitäterinnen und Putzfrauen freuten sich mit mir. Inzwischen habe ich schon dem nächsten Kind einen gebogenen Lernlöffel und ein Plastiklätzchen mit einer Auffangschale gekauft.
Meine Aufgabe sehe ich vor allem darin, den Kindern viele schöne Momente zu schenken, sie nach meinen Möglichkeiten zu fördern und ihnen ein wenig Liebe und Geborgenheit zu schenken. So versuche ich, die Kinder mit allerlei Materialien, Spielen oder Musik anzuregen. Den einen bezaubert eine große, bunt schimmernde Seifenblase, die aufs Bett fällt, einen anderen eine Wunderkerze. Aber natürlich gibt es immer noch diese Tage, wo mir das Herz wehtut. Immer dann, wenn mir wieder einmal bewusst wird, dass ich viele Kinder in meiner Gruppe habe, ganz viele Ideen, aber keine Möglichkeit, allen Kindern so viel Zeit zu geben, wie sie brauchen. Zu viele kleine Hände, die nach mir ausgestreckt werden, zu viele Tränchen, die man trocknen soll...
Fast täglich hören wir von unseren Freunden, Nachbarn und Arbeitskollegen neue Geschichten, die uns traurig stimmen. Ob an der Universität, bei der Polizei, im Krankenhaus und auch in allen anderen Einrichtungen spielt Korruption eine große Rolle. Das zweite große Problem ist der Alkohol. Der Wodka wird hier wie Wasser getrunken. Aber natürlich kann man auch verstehen, dass sich viele Menschen ihr Leben in diesem Land »schönertrinken« wollen. Auch der Stand einer Frau ist keinesfalls mit dem deutschen zu vergleichen. Ein Beispiel: Frauen gibt man hier zur Begrüßung und Verabschiedung nicht die Hand! Außerdem werden wir ständig danach gefragt, wie es denn unseren Männern in Deutschland ginge. Die Mädchen in unserem Alter sind zum großen Teil schon verheiratet, einige haben Kinder. Außerdem scheint das Make-up vieler junger Frauen manchmal mehr zu wiegen als sie selbst, so dünn sind sie. Wir haben schon ein paar Mädchen kennen gelernt, die fleißig Deutsch lernen, weil alles, was sie erreichen wollen, die Heirat mit einem deutschen Mann ist.
Abrunden möchte ich diesen, natürlich nicht ausreichenden Abschnitt über die Ukraine mit einem Witz, den mir ein junger Deutschlehrer von der hiesigen Universität erzählt hat. Zuerst habe ich ihn nicht verstanden, und dann fand ich ihn gar nicht witzig: Ein junges ukrainisches Pärchen geht an einem Süßwarenladen vorbei. Die Frau sagt: »Oh, wie wunderbar es hier riecht und lecker das aussieht.« Darauf der Mann: »Dann lass uns noch einmal vorbeigehen.«
Ich wünsche euch allen Gesundheit, eine warme, stimmungsvolle Weihnachtszeit in der Familie, mit freundlichen Grüßen, Franziska.
März 2004
Hallo liebe Freunde, Verwandte und Bekannte,
nun kehrt bald der Frühling ein, alles wird leichter, alles wird schöner. Die zweite Hälfte meines Jahres in der Ukraine fängt grün an und riecht so gut!!!!
Den Jahreswechsel verbrachte ich mit anderen Freiwilligen in St. Petersburg. St. Petersburg ist eine Traumstadt! In jeder Straße, hinter jeder Häuserecke lauert eine Sehenswürdigkeit. Ich habe mich treiben, verleiten lassen zu allem, wozu ich Lust hatte. Ich liebe es, Städte ganz für mich allein zu entdecken.
Nach zwölf wunderschönen Tagen reisten wir mit dem Nachtzug weiter nach Moskau. Wenn ich an Moskau zurückdenke, dann erinnere ich mich vor allem an die betrunkenen Obdachlosen, die auf den U-Bahn-Schächten lagen und sich an der ausströmenden Luft bei Minus 19 Grad erwärmten, und an die vielen alten Frauen, die sich auf den eiskalten Pflastersteinen kniend mit ausgestreckter Hand tausend Mal bekreuzigten und ihren Kopf unterwürfig fast bis zum Boden senkten. Moskau fand ich nicht so schön wie St. Petersburg, teilweise sogar erschreckend.
Wieder in Zyrupinsk, konnte ich es kaum erwarten, zur Arbeit zu gehen. Oh, wie hatte ich die Kleinen vermisst! Es war wundervoll, wie die Kinder mich empfingen. Diejenigen, die laufen oder kriechen können, stürmten auf mich zu, drückten, umarmten und küssten mich, und die anderen kreischten, schrieen und lachten. Seitdem fragen mich zwei Kinder jeden Tag, ob ich denn auch wirklich morgen wiederkommen würde. Ich habe inzwischen ein wenig Angst, dass ich die Kinder schon zu sehr liebe und auch sie schon zu sehr an mir hängen.
Zwei Wochen später ging es dann bereits nach Aachen zur Zwischenreflexion. Es ist ein tolles Gefühl, wenn man sich so voll und ganz von den anderen Freiwilligen, die teilweise ähnlich arbeiten, verstanden fühlt! Aber es war schon merkwürdig, sich in Deutschland wieder mit den alten Themen konfrontiert zu sehen. Plötzlich regte ich mich nicht mehr über die unpünktliche Bahn auf, da es in Zyrupinsk und Umgebung nicht einmal Fahrpläne gibt. Ich war beeindruckt von der unglaublichen Sauberkeit, von den vielen neuen Autos auf den vielen neuen Straßen, von dem höflichen Service, von freundlichen Gesichtern auf der Straße, von den festen Preisen und vielem mehr.
Auf der Fahrt mit dem Bus in die Ukraine fing ich bereits an, alles wieder zu vermissen, besonders, als die Straßen rumplig wurden, die verlassenen Bretterbuden-Siedlungen auftauchten und ich an 100 Kilometer langen Feldern vorbeifuhr, die mich traurig ansahen, da sie einst so reichlich bestellt worden waren. Ich beschloss, auch an diesem Wochenende zu arbeiten. Für meine Sanitäterinnen bereitete ich ein Essen vor und hatte kleine Geschenke für sie mitgebracht. Sie machten große Augen und waren so dankbar für diese kleinen Gaben und wohl auch für die Geste. Das mittlerweile sehr gute Verhältnis zu ihnen dürfte dies noch mehr gestärkt haben.
Im Moment sind wir sehr damit beschäftigt, »unser Zimmer« zu gestalten. Ich hatte einmal vor den Kindern erwähnt, dass es bald ein Zimmer nur für sie und uns geben würde, und seitdem nennen sie es immer nur »nascha Komnata«. Es wird jeden Tag schöner, bunter und voller, aber wir haben noch jede Menge Arbeit. Wir müssen vor allem viel Überzeugungsarbeit leisten und dürfen nicht mal einen Nagel in die Wand schlagen, ohne vorher zu fragen. Manchmal müssen wir aber auch nur Ratten vertreiben, die sich an der Schokolade für die Kinder vergreifen. Doch nicht nur die Schokolade verschwindet. Wir gewöhnten uns schnell ab, Massagebälle, Lappen, Tücher und andere Pflegeprodukte über Nacht im Heim zu lassen, denn dann war immer plötzlich etwas weg. Vor »unserem Zimmer« mussten wir leider ein Schloss anbringen.
Sehr gewundert hatte ich mich neulich über den Bericht einer meiner Mitbewohnerinnen, die sah, wie ihre Sanitäterinnen die gekauften Pampers-Windeln unter sich aufteilten. Sie haben jedoch nicht etwa alle kleine Kinder zu Hause, sondern sie benutzen die Windeln, wenn sie ihre Menstruation haben. Mit den 200 Grivna (ca. 40 Euro) monatlich können sie sich solche Hygieneartikel nicht immer leisten. Meine älteren Sanitäterinnen wissen nicht einmal, wie man einen Staubsauger einschaltet (der ist natürlich viel zu teuer) oder eine Kassette umdreht. Dafür wissen sie aber ganz genau, wie das unkommunikative Fernsehgerät funktioniert.
Früher habe sie sehr gerne gelesen, erzählte mir Nina, aber heute gebe es ja einen Fernseher. Deshalb nahm sie vor kurzem einen Kredit für ein neues Fernsehgerät auf. Ich schreibe dies ohne jegliche Verurteilung, denn inzwischen verstehe ich ihre Situation sehr gut. Die 50-jährige Nina ist meine Lieblingssanitäterin. Ihr Mann verdient nur unwesentlich mehr als sie, ihre Kinder sind groß, leben überall verstreut in der Ukraine und besuchen sie nur selten, die Miete wird immer höher und das Ehepaar immer älter. Trotz ihrer sehr bescheidenen Lebensverhältnisse ist sie zufrieden, und man sieht es ihr an. Auch die Kinder haben sehr viel Freude mit ihr. Sie ist eine tolle Frau, ich mag sie sehr.
Andere Sanitäterinnen haben ein Lieblingskind und bevorzugen dieses. Leider gibt es auch Kinder, die sie überhaupt nicht mögen. Das lassen sie die Kinder - wenn sie sich unbeobachtet fühlen - durch Nichtbeachtung, kleinere Essensportionen, ständiges Anschreien oder Schläge spüren. Die kleine Julia, der ich schon vor einiger Zeit das Essen beigebracht habe, ist wohl das beliebteste Kind. Sie ist mit ihren inzwischen acht Jahren ungefähr 60 Zentimeter groß und sieht aus wie ein Baby. Ich nenne sie immer unsere kleine Prinzessin, denn sie benimmt sich tatsächlich wie eine solche. Obwohl sie nicht spricht, versteht sie alles, auch wenn sie stets nur das zu verstehen scheint, was sie auch verstehen möchte. Mit ihren unverwechselbaren Gesichtsausdrücken und den fauchenden oder grunzenden lustigen Lauten macht sie uns aber öfter verständlich, was sie will oder nicht will. Wenn sie zum Beispiel mit dem Essen fertig ist und schon zwei Mal durch Tellerklappern dazu aufgefordert hat, den Teller, den Löffel und das Plastiklätzchen wegzunehmen, dann fliegt kurz darauf alles durch den Raum. Sie hat ihren Hof sehr gut unter Kontrolle, und die anderen Kindern machen so einiges, um ihr ein Lächeln zu entlocken. Aber dieses Lächeln ist unwiderstehlich, und das weiß sie.
Ich weiß, dass die nächsten Monate rasend schnell vergehen werden und der Abschied mir bald sehr schwer fallen wird. Denn so unschön grau diese Gegend auch manchmal sein mag und so mürrisch mir viele Leute ab und zu begegnen, so mag ich es hier doch! Ganz wie Christian Morgenstern sagte: Schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet. Ich betrachte die kleine nette Plastiktüte, die an dem kahlen knochigen Ast des Baumes vor unserem Haus so hektisch tanzt, und wir freuen uns beide darauf, dass aus dem Ast bald grüne saftige Blätter wachsen werden.
August 2004
Hallo liebe Freunde, Verwandte und Bekannte,
mit einiger Verspätung sende ich euch heute die wohl letzten Zeilen aus der Ukraine. Plötzlich geht alles so schnell. Sehr viel ist passiert. Der Frühling zog bereits vorbei und machte Platz für den Sommer, der uns schon seit drei Wochen bei ca. 30 bis 45 Grad schwitzen lässt. Auf dem Markt kann man alle möglichen süßen Früchte für ca. 30 Cent das Kilo kaufen, und anstatt der Plastiktüte schmücken jetzt Aprikosen den Ast am Baum vor unserem Haus. Die Stadt wirkt schöner und freundlicher. Gern würde ich die Zeit anhalten, denn auf einmal ist alles viel einfacher, viel harmonischer und leichter.
Schon seit einigen Wochen bin ich sehr lange und fast jeden Tag im Heim. Die Kinder aus der Liegegruppe habe ich noch intensiver kennen gelernt, und sie überraschen immer öfter mit neuen Fähigkeiten. Die Beziehung zu den Sanitäterinnen ist so gut wie nie. Es gibt so gut wie keine Verständigungsprobleme mehr, die Arbeitsaufgaben sind klar festgelegt, und mir legt inzwischen nur noch selten jemand Steine in den Weg, wenn ich etwas ausprobieren will. So hatte ich gestern wenigstens ein Kopfschütteln erwartet, als ich die Kinder auf dem Balkon in einem aufblasbaren Bassin habe plantschen lassen.
Auch zu den Schulkindern haben wir mittlerweile einen regen Kontakt, denn die Ferien haben begonnen, und somit haben sie viel Zeit. Die Direktorin hat erlaubt, dass wir sie am Wochenende zu uns nach Hause einladen. Diese Kinder sehnen sich sehr nach der Welt »da draußen«, denn sie dürfen das Heimgelände nur selten verlassen. Es ist für mich immer wieder unbegreiflich, wie ausgeglichen, fröhlich, freundlich und klug diese Kinder sind. Einige von ihnen helfen uns sogar in unseren Gruppen und schieben andere Kindern spazieren. Der Gedanke ist grauenvoll, dass der größte Teil von ihnen nach dem 18. Lebensjahr ins Altersheim geht und dort in keiner Weise gefördert wird.
»Nascha Komnata« hat konkrete Formen angenommen. Wir haben geputzt, gestrichen, repariert und montiert. Der Raum ist bunt geworden, steckt voll liebevoller Ideen. Kuschelige Samtdecken, Stoffe mit Regenbogeneffekt an der Decke, große Fotos von Kindern, viele gemütliche Sitzgelegenheiten, bunte Lichtschläuche, Federboas, eine Diskokugel, eine riesige Sandmatratze und eine Wassersäule geben dem Raum einen zauberhaften Charakter. Viele andere Dingen sind noch geplant, z.B. eine Schultafel und eine Tastwand. Alles wird über Spendengelder finanziert, die wir vier Mädchen in verschiedenen Aktionen in Deutschland gesammelt haben. Auch Dank der Großzügigkeit von Lesern dieser mails wurde vieles möglich. Wenn man den Stoff zum Verdunkeln am Fenster anbringt, dann verwandelt sich das Spiel- und Lernzimmer mit entsprechender Musik zur wunderbaren Entspannungsmöglichkeit. Und wie die Kinder entspannen! Es ist so ein gutes Gefühl, wenn Rustam, der eben noch einen wütenden Schreianfall hatte, auf dem Arm einschläft.
Auch Vica ist ein ganz besonderes Mädchen. Die Fünfjährige ist blind, sie besitzt keine Augäpfel. Als sie vor fünf Monaten aus dem Babyheim zu uns kam, schrie sie bitterlich, wenn man sie aus dem Bett nahm. Dort machte sie den ganzen Tag auf den Knien sitzend monotone Auf- und Ab-Bewegungen und flüsterte leise etwas Unverständliches. Doch bald stellte ich fest, dass sie schon einige Wörter sprechen konnte und fast alles verstand. Ich sprach nun immer mehr mit ihr, und sobald sie sich meinen Namen merken konnte, wurde dieser auch ständig gerufen. Ich brachte ihr neue Wörter bei, bald wurde daraus: »Trinken!« und »Nass!«, »Francesca, gibt mir Tee!« und »Francesca, bring mir das Töpfchen!« Ganz langsam fing ich an, sie öfter aus dem Bett zu nehmen und mit ihr an der Hand die Gegend um ihr Bett herum zu erkunden, später dann das ganze Zimmer. Heute weiß sie ganz genau, wo sich jedes Bett befindet, und setzt sich schon allein an den Tisch zum Mittagessen. Zum Mittagschlaf singe ich für die Kinder ein Einschlaflied, und bei allen Liedern, die ich auf Englisch, Deutsch und Russisch im Repertoire habe, kann sie mittlerweile mitsingen. Es ist unglaublich, wie schnell sie lernt, und noch viel unglaublicher, dass sie erst jetzt so viel auf einmal lernt. Vica ist so ein wunderbares Kind. Dass sie keine Augen hat, fällt mir gar nicht mehr auf.
Um zu wissen, wo die Kinder herkommen und wo sie nach dem Kinderheim hingehen, habe ich mich schon vor einiger Zeit entschieden, sowohl ein Praktikum im Babyheim, als auch im Altenheim zu machen. Im Babyheim befinden sich die Behinderten in der untersten, dunklen Etage. Dort arbeitete ich eine Woche lang und kann mir nun einige Verhaltensweisen von Kindern noch besser erklären. Nicht einmal als süße Babys erhalten die Behinderten hier genügend Zuwendung. Sie liegen den ganzen Tag in ihren Bettchen und freuen sich vor allem über das Windeln. Lange habe ich mich gefragt, wieso das so ist. Vielleicht, weil dies einer der wenigen Momente ist, in denen sie Körperkontakt erfahren dürfen.
Im Altenheim wurde mir das Praktikum leider nicht gestattet. Aber letzte Woche war ich in einem solchen in Kachovka zu Besuch. Die Gruselgeschichten, welche die Sanitäterinnen gemeiner Weise den Kindern erzählen, die nicht hören wollen, sind natürlich stark übertrieben, aber auch nicht ganz unwahr. Für die Bewohner, die sich selbstständig, mit Gehhilfe oder Rollstuhl bewegen können, bietet das Heim recht viel Freiraum und auch ein wenig Arbeit, um sich etwas zu den drei Euro Taschengeld im Monat dazu zu verdienen. Schlechter ist die Lebenssituation für die Behinderten, die nur im Bett liegen dürfen, und für die alten Menschen in der zweiten Etage, die zu viert in einem kleinen Zimmer vor sich hin altern.
Neulich, im überfüllten Bus, hatte ich ein interessantes Gespräch mit einer Frau aus China, die schon seit zehn Jahren mit ihrer Familie ein Restaurant in Zyrupinsk betreibt. Sie fragte mich, ob ich auch für längere Zeit hier leben könnte. Obwohl ich mir durchaus vorstellen kann, die sinnvolle und ausfüllende Arbeit im Heim für mehrere Jahre fortzuführen, antwortete ich doch mit einem klaren Nein. Erklären konnte ich ihr meine Antwort mit genau solchen Situationen, die während unseres Gespräches im Bus abliefen. Nach der letzten Haltestelle fand ein kleiner Kampf zwischen zwölf Leuten um die neuen Sitzplätze statt. 21 Leute redeten die ganze Zeit im Imperativ und in Einwortsätzen: »Tür aufmachen«, »Herkommen«, »Geld geben«. Alles ohne Bitte und Danke, aggressiv. Mindestens die Hälfte der Männer stinkt nach Alkohol. Sie hören einfach nicht auf, auf dich einzureden und fassen einen sogar an. Ich hasse es. Aber ich hasse viel mehr die Gründe, warum so viele Ukrainer dem Alkohol verfallen sind. Es ist manchmal nicht so leicht, selbst fröhlich und bei guter Laune zu bleiben, wenn man auf der Straße nur Leuten mit traurigen und verbitterten Gesichtern begegnet. Umso glücklicher bin ich darüber, noch mehr Menschen entdeckt zu haben, bei denen das nicht so ist, und die ich meine Freunde nennen darf.
Anfang Juli erhielten wir einen Spendentransport von meinem Vater. Seit fast vier Wochen passiert nichts, obwohl ich ständig mit der zuständigen Frau telefoniere. Es müsse schließlich alles ganz genau kontrolliert werden, und die Chefin befände sich sowieso gerade im Urlaub. Noch unangenehmer waren die vielen Kennenlern- und Heiratsangebote von Frauen, die auf mich zukamen, als mein Vater schon längst wieder seine Rückreise angetreten hatte.
Meine Erwartungen, die ich an den Dienst gestellt hatte, sind erfüllt worden. Ich wollte vor allem vom Leben lernen. Ich wollte eine soziale Arbeit in einem Land leisten, in welchem es den Leuten nicht so gut geht wie uns Deutschen, und lernen, unter anderen Bedingungen leben zu können. Viele der Leute, die trotz der wenigen Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen, ihr Leben meistern, bewundere ich. Ich weiß inzwischen viel mehr zu schätzen, in welcher Sicherheit wir in Deutschland leben, wie gut unser Gesundheitssystem und wie demokratisch unser Land ist. Auch wenn viele Deutsche besonders im Moment etwas anderes behaupten. Ich denke, dass alle Leute, die für eine längere Zeit im Ausland leben und arbeiten und dort offen sind für die Menschen und deren Kultur, helfen, zwischen den Ländern Brücken zu bauen. Der Freiwilligendienst ist eine überaus sinnvolle Sache.
In diesen letzten Wochen vor dem Abschied, die so ausgefüllt und intensiv sind, genieße ich noch ein wenig die kleinen, sich ständig wiederholenden Dinge des Alltags, die ich sicher bald vermissen werde. Zum Beispiel, wie eine Frau jeden Tag »OOOOOOlgaaaaaaa!« hoch zum Fenster in den sechsten Stock schreit, da es keine Klingeln gibt. Ebenso das laute Teppichklopfen vor unserer Haustür, zu dem sich allabendlich mehrere Frauen verabreden. Außerdem werde ich sicher oft an den kleinen stimmungsvollen Abendmarkt denken, auf dem ich mittlerweile mindestens 80 Kilogramm Früchte gekauft habe. Aber besonders vermissen werde ich die Kinder in meinen Gruppen, deren Welt, wenn ich dann gehe, wieder langweiliger und strenger werden wird. Bis einen Monat später die neuen Freiwilligen kommen. Ich hoffe, dass sie ihre Arbeit wichtig nehmen und wünsche mir, dass dieses Projekt noch lange finanzierbar ist. Aber ich weiß auch, ich komme zurück. Schon der kleine Prinz meinte: »Für das, was man sich einmal vertraut gemacht hat, hat man ein Leben lang Verantwortung.«
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