Kleiner Aufschwung eines Wendeverlierers

Weißenfels mausert sich zum Zentrum der Ernährungswirtschaft

  • Stefan Tesch
  • Lesedauer: 6 Min.
Weißenfels, einst DDR-Schuhmetropole, gehörte zu den Verlierern der Wende. Tausende Jobs brachen weg, viele Einwohner gingen von dannen. Doch durch glückliche Umstände mausert sich die Kreisstadt in Sachsen-Anhalt zu einem Zentrum der Ernährungswirtschaft. Diesen Zustand versuchen ambitionierte Kommunalpolitiker festzuhalten. Auch wenn dies längst nicht alle Hartz-IV-Probleme in die Saale spülen wird.
Weißenfels hat seine Schokoladenseite entdeckt. 50 Paar geschickte Hände fertigen hier seit kurzem leckere Brockensplitter, Apfelsinenschnitten und Nussnougat-Pralinen. Schauplatz ist eine verwaiste Metallfabrik. Ist das schon ungewöhnlich genug, so besteht das eigentlich Kuriose darin, dass man diese süße Fabrikation einem polnischen Vorproduzenten abluchste. Bis dato besaß die Stadt Null Tradition in Sachen Kakaoveredlung. Dennoch entschied sich die Schokoladenmanufaktur »Argenta« in Wernigerode, fortan wieder »daheim« zu produzieren. Warum genau, verrät Landrat Rüdiger Erben (SPD) nicht. Vielsagend meint er nur, er habe sich halt »persönlich der Sache angenommen«.

Pralinenfertigung als Sahnehäubchen
Mehr als das jungenhafte Charisma des 37-Jährigen hat die Investoren vermutlich ein gewisser Drive in die 30000-Einwohner-Stadt gelockt. Denn ihre Pralinenfertigung ist vorerst das Sahnehäubchen für jene neue Schokoladenseite, mit der sich der Raum Weißenfels peu à peu zu einer appetitlichen Region mausert. Hier sprudelt der »Leißlinger Mineralbrunnen« zum nunmehr größten deutschen Abfüller von Erfrischungsgetränken empor, hier betreibt das Fleischimperium Tönnies den größten Schlachthof Ostdeutschlands, hier ging vor wenigen Wochen im Frischli-Milchwerk eine neue Produktionshalle für drei hochmoderne H-Milch-Anlagen in Betrieb. Großbäcker Kamps begnügt sich in seiner neuen Produktionsstätte nicht mit kleinen Brötchen. Kuchen aus Weißenfels geht in bundesweit 23500 Supermärkte.
Diese ernährungswirtschaftliche Ballung verströmt ihren Duft nun in tangierende Branchen wie die Landwirtschaft, Automatisierungstechnik und Großhandel. So wurde die Stadt Großumschlagplatz für ostdeutsche Traditionsbackwaren anderer Regionen, etwa Filinchen und Neukirchner Zwieback. Überdies nimmt im Frühjahr im Gewerbegebiet Zorbau ein neues Feinstwellpappe-Werk der Schweizer Roba Packing AG den Betrieb auf. Abnehmer sind Danone, Hipp, Nestlé, Tschibo, Storck und Eckes.
Dabei ist Weißenfels weiß Gott kein Wendegewinner. Vor der Einheit produzierte hier das größte Schuhkombinat im Osten, doch von dessen Tausenden Mitarbeitern »überlebten vielleicht noch 40«, überschlägt Erben. So schrumpfte auch die Einwohnerzahl um fast ein Viertel. Entsprechend trist wirken ganze Innenstadtzüge. Leere Wohnungen, vernagelte Türen, marode Dächer und Industriebrache gehören zum Bild, das an die verflossene Wirtschaftskraft erinnert.
Jeder Dritte sei ohne Job. Und von diesen »8000 Betroffenen sind rund drei Viertel Langzeitarbeitslose«, weiß der Landrat. Selbst für sachsen-anhaltische Maßstäbe sei es eine bestürzende Dimension. So waren 2002 die Löcher im Stadtsäckel so groß, dass Weißenfels zwangsverwaltet wurde.
»Doch zwei Jahre später sind wir der gewerbesteuerstärkste Landkreis in Sachsen-Anhalt«, freut sich Erben, der seit 2001 im Amt ist. Diese Metamorphose zu erklären, fällt indes selbst ihm schwer. Ein Masterplan, um die Region gezielt zu einem überregionalen Lebensmittelstandort zu powern, habe nie vorgelegen, räumt er ein. Auch historische Gründe sieht er nicht für diesen Lauf. Es habe halt »viel mit den Glücksfällen des Lebens zu tun«, frohlockt er. »Jedenfalls hatte vor zwei Jahren keiner die Idee, hier Schokolade herzustellen.«

»Leckermäulchen« mit Klassikerstatus
Zu DDR-Zeiten entstand lediglich ein moderner Schlachthof, der nun von Bernd Tönnies erneut erweitert wird. Damit kommen bald 11000 statt 7000 Schweine täglich an die Haken und die Belegschaft wächst um ein Viertel auf 1000. Für die frühere Genossenschaftsmolkerei interessierten sich Niedersachsen, um sie in ihre Frischli-Gruppe einzugliedern.
Als Glücksgriff erwies sich danach der Mut des bodenständigen Geschäftsführers Dieter Gorzki, den DDR-Klassiker »Leckermäulchen« neu zu beleben. Allein von diesem cremigen Schaumquark produziere man nun 3000 Tonnen und sei so »mit einem fast hundertprozentigen Bekanntheitsgrad Marktführer bei Fruchtquarks im Osten«. Insgesamt veredle das Werk jährlich 150 Millionen Liter Milch, die aus der Region stammten, so Gorzki.
Bei der Mitteldeutschen Erfrischungsgetränke GmbH in Leißling trieb hingegen alte Familientradition die Investitionen voran. Christian Künzer, Enkel des Firmengründers, bekam den 1972 enteigneten Betrieb zurück. Er begann 1990 klein mit 15 Mitarbeitern und beschäftigt heute 1000 Leute an vier Standorten.
Mittlerweile ist aber auch die öffentliche Hand mit im Boot, und sie zeigt sich nicht knauserig. Für eine neue Firmenzentrale der Brunnen-Holding steuert die Stadt ein Viertel der Kosten bei - gut zwei Millionen Euro. Auch Tönnies machte man den Schlachthofausbau mit vier Millionen Euro schmackhaft. Und das 25 Millionen Euro teure Wellpappenwerk bezahlt das Land Sachsen-Anhalt sogar zu 45 Prozent. Der Magdeburger Wirtschaftsminister Horst Rehberger (CDU) versichert, die Verhandlungen hätten »sehr schnell zu einer Lösung geführt, die den Investor überzeugte«. Denn ausdrücklich lobte der aus Österreich stammende Roba-Chef Roman Bauernfeind die »ausgezeichnete Zusammenarbeit mit den Partnern vor Ort«.
Was wie eine Floskel klingt, macht Landrat Erben an einer in seinen Augen magischen Zahl fest: zehn. Denn gerade zehn Tage seien nach Einreichen des Bauantrages vergangen, bis Bagger den ersten Mutterboden abschieben konnten. »Kann ich mir eine bessere Standortwerbung vorstellen?«, fragt er. Im Wissen um die Zählebigkeit von Baugenehmigungsverfahren hatte der Sozialdemokrat die Kreisverwaltung umstrukturiert. Er gründete ein Genehmigungsamt, unter dessen Dach all jene Instanzen geführt werden, an denen ein Investor nicht vorbeikommt: Bauaufsicht, Umweltamt, Wasserbehörde, Denkmal- und Naturschutz.
»Ich wollte das übliche Kompetenzgerangel ausschalten und verhindern, dass einer die Verantwortung auf den anderen schiebt«, erläutert er dazu. Auch eine Anbindung an die Wirtschaftsförderung schien ihm riskant. Hier sieht der gelernte Verwaltungsjurist die »Gefahr von Gefälligkeitsgenehmigungen, die womöglich im Detail nicht gerichtsfest sind, wenn ein Anrainer dagegen klagt«.
Landrat Erben will halt Macher sein. Um neue Anbahnungen bemüht er sich gern persönlich. Fast für wichtiger als Förderzuschüsse hält er dabei ein »passgerechtes« Reservoir an Arbeitskräften. Denn trotz der hohen Jobnot suche viele Unternehmen händeringend nach geeigneten Leuten. Das spiele aber in den Förderstrategien selten die erste Geige, moniert er.

Neue Schwerpunkte in der Ausbildung
Die Weißenfelser sehen nun gerade hierin ihre Chance. Selbst ohne eigene Lebensmitteltradition scheitere kein Vorhaben an Fachpersonalmangel, versichert Erben. »Jammern füllt keine Kammern«, pflichtet ihm der Weißenfelser Oberbürgermeister Manfred Rauner (CDU) bei. So etablierten Stadt und Landkreis am örtlichen Berufsschulzentrum den Ausbildungsschwerpunkt Ernährung. Das Weißenfelser IHK-Bildungszentrum kreierte sogar ein neues Ausbildungsprofil - den Industriemeister Ernährungswirtschaft.
»Wir bilden also gezielt für interessierte Investoren aus, machen ihnen die Belegschaft ganz passgerecht«, wiederholt Erben jenen Begriff, den er für besonders wichtig hält. »Hätten wir hier sonst je eine Schokoladenmanufaktur herbekommen?« Die 50 benötigten Mitarbeiter kamen fast alle aus früheren Konditoreien. Sie wurden »nach Investorwünschen umgeschult«. Selbst einen personellen Hilfspunkt wusste man beizusteuern: Verpackungen liefert kostengünstig eine nahe Behindertenwerkstatt.
Doch fast jede Neuansiedlung leidet unter dem selben Problem: Moderne Technik ersetzt Personal. Mithin macht sich Erben nichts vor: Gut die Hälfte der rund 8000 Arbeitslosen bekomme er auch nicht bis 2010 »von unserer Gehaltsliste«, meint er sarkastisch mit Blick auf das Arbeitslosengeld II. Bei der anderen Hälfte sieht er indes »reale Chancen«. Zumindest »alle bis 25 Jahre« wolle man in feste Arbeit bringen, gibt er sich kühn: »Notfalls mit ein bissel Druck. Denn gelingt uns das nicht, versauen wir sie für ihr ganzes Leben.«
Drum will er jene 14,5 Millionen Euro, mit denen der Kreis 2005 Ein-Euro-Jobs, ABM-Vorhaben oder Umschulungen alimentieren darf, auch gezielt verwenden. Und dies durchaus auch ein wenig aus Eigennutz. Denn mit jenen Integrationsmaßnahmen glaubt Erben »erfolgreich eigene Akzente setzen zu können«. Hier stünden Kommunalpolitiker einfach stärker im Leben als eine Arbeitsagentur. »Drum sehe ich das als das Feld an, auf dem wir sagen können: Das machen wir besser «, meint er selbstbewusst. Ansonsten agiere man aber sehr kooperativ und einvernehmlich. Man habe dank Wochenendeinsätzen und Überstunden bereits Mitte Dezember »Planerfüllung« bei der Eingabe aller Betroffenendaten vermelden können. »Wer also seinen Antrag rechtzeitig abgab«, versichert der Landrat, »erhielt auch pünktlich sein Geld.«

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -