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  • Politik
  • Vor 60 Jahren: Der Mord an Tuchatschewski und die Enthauptung der Roten Armee

Hatte Stalin Angst vor einem »roten Napoleon«?

  • Lesedauer: 4 Min.

Generalfeldmarschall und Reichspräsident Hindenburg wird Sowjetmarschall Tuchatschewski bei einem Manöver 1932 in Frankfurt/Oder vorgestellt

Von Karl-Heinz Gräfe

Der Chef der Armeeaufklärung, S. Uritzki, berichtete am 9. April 1937 Stalin von Gerüchten über einen bevorstehenden Staatsstreich einer Gruppe von Sowjetgeneralen. Ähnliches hatte der Gesandte der UdSSR in Paris schon im März durchblicken lassen. 1946 bestätigte der einstige französische Ministerpräsident Daladier, daß ihn seinerzeit Benes, Präsident der CSR, über Umsturzpläne der Roten Armee gegen Stalin informiert hatte. Am 22. April beschloß das Politbüro der KPdSU, daß der Stellvertretende Verteidigungsminister Michail Tuchatschewski nicht zu den Krönungsfeierlichkeiten König Georgs VI. nach London fahren werde. Die Begründung: Man habe erfahren, daß gegen Tuchatschewski »im Auftrage der deutschen Geheimdienstorgane ein Attentat verübt werden soll«.

Zu gleicher Zeit wurden sowjetische Sicherheitsoffiziere und inhaftierte Militärs gezwungen, den Marschall und Träger des Leninordens als Haupt einer »Verschwörung« zu beschuldigen. Ein Dossier des tschechoslowakischen Nachrichtendienstes, das Stalin von Benes am 8. Mai 1937 erhielt, galt als Bestätigung hierfür Wie sich später herausstellte, stammte das Material aus der Fälscherküche von Heydrichs Sicherheitsdienst; es sollte Stalins Mißtrauen zu seinen Militärs stärken und die Rote Armee schwächen.

Zunächst wurde Tuchatschewski zum Befehlshaber des Wolga-Militärbezirkes degradiert, bereits am 22. Mai folgte die

Verhaftung. Zwei Tage später wurde auf einer Politbürositzung das Todesurteil gegen ihn vorentschieden. Nach üblen Folterungen »gestanden« Tuchatschewski und die gleich ihm verhafteten Offiziere Jakir, Uborewitsch, Kork, Primakow, Ejdman, Feldman und Putna; Gamarnik beging Selbstmord. Am 12. Juni 1937 wurden die für »schuldig« befundenen

Militärs erschossen.

Die Politbüro-Sitzung vom Mai 1937 hatte beschlossen, das gesamte Offizierskorps der Roten Armee »einer gründlichen Untersuchung zu unterziehen«. Die Folgen waren verheerend. Es gibt wohl keine Armee auf der Welt, die in Kriegszeiten so viele Militärs verloren hat wie die Sowjetarmee in ihren letzten drei

Friedensjahren vor 1941: 43 000 Bataillons- und Kompanieführer, 204 der insgesamt 243 Korps- und Divisionskommandeure, 21 von 24 Armeebefehlshabern und Admiralen sowie drei von fünf Marschällen. Die Enthauptung der sowjetischen Streitkräfte in einer Zeit, da die Menschheit bereits in den Zweiten Weltkrieg durch deutsche, italienische und japanische Aggressoren gedrängt wurde, war fatal: Um sich eine kurze Atempause zu erkaufen, schloß Stalin den schändlichen Pakt mit Nazideutschland, stellte sein Land damit auf die Stufe des Aggressors und erleichterte die faschistische Unterwerfung Europas. Der selbstzerstörerische Aderlaß in der Roten Armee war wiederum für Hitler ein gewichtiges Argument, die Bedenken seiner Generalität zum »Blitzkrieg« gegen die UdSSR zu zerstreuen: »Stalin hat 1937 die erste Garnitur seiner Offiziere liquidiert, und die neue Generation verfügt

noch nicht über die Hirne, die gebraucht werden.«

Es ist heute schwer zu begreifen, wie ein bürgerlicher Politiker vom Format eines Winston Churchill diese Wende zum »Größen Terror« nach dem »Fall der Militärs« beurteilte: »Darauf folgten erbarmungslose, aber vielleicht nicht unnötige politische und militärische Säuberungen in Sowjetrußland und eine Serie von Prozessen ..., in denen Wyschinski als öffentlicher Ankläger eine so meisterhafte Rolle spielte ... Die russische Armee wurde von ihren deutschfreundlichen Elementen gesäubert, allerdings um den hohen Preis der Schwächung ihrer militärischen Effizienz.«

Historiker wollen für alles eine Erklärung finden. Aber die Motive für Sturz und Ermordung Tuchatschewskis scheinen auch nach 60 Jahren schwer zu enträtseln. Mißfiel Stalin dessen kometenhafter Aufstieg vom zaristischen Gardeunterleutnant (1914) zum »roten Marschall« (1935)? Hatte Tuchatschewski nicht »bolschewistische Härte« bewiesen, als er die Kronstädter Meuterei erstickte und es den Tambower Bauernrebellen zeigte? Leistete er nicht einen großen Beitrag zur Stärkung der Roten Armee, auch durch die Zusammenarbeit mit der Reichswehr? War es dem Kremlherrn unerträglich, daß sein Marschall nicht nur durch zahlreiche Frauenaffären von sich reden machte, sondern auch ein anerkannter Militärfachmann von Weltrang war? Oder sah Stalin in Tuchatschewski tatsächlich einen »roten Napoleon«, der ihn als unumschränkten Alleinherrscher gefährlich werden könnte?

Auch Leo Trotzki, Gründer der Roten Armee, suchte nach einer Erklärung. Am 17. Juni 1939 schrieb er im mexikanischen Exil: »Stalin muß die juristische Festigung seiner persönlichen Macht anstreben ... als lebenslänglicher Führer Gleichzeitig muß er befürchten, daß sich aus der Mitte der Bürokratie selbst oder vor allem der Armee gegen seine cäsaristischen Pläne Widerstand erheben kann. Der Roten Armee ... hat er einen schrecklichen Schlag zugefügt ... Die Interessen der Landesverteidigung sind von den Interessen der regierenden Clique geopfert worden.«

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