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  • Politik
  • Notiz zur Hoffnung inmitten des Unglücks

Macht Moral noch Sinn?

  • Helmut F. Kaplan
  • Lesedauer: 4 Min.

Es spricht wenig dafür, daß der Mensch noch zur Vernunft, geschweige denn zu Moral käme. Nach wie vor werden Kriege geführt, und nach wie vor wird die Umwelt zerstört obwohl wir heute, im Gegensatz zu früher, sehr genau wissen, wozu .dies führt und führen kann. Der Mensch als Gattung hat sich auf alle Fälle zu wenig positiv entwickelt, die Gefährlichkeit seiner Produkte und Werkzeuge aber hat sich vervielfacht. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.

Wozu dann noch irgendwelche individuelle Bemühungen, etwas zu ändern, zu bessern, zu retten? Für diesen Umstand, daß wir trotz aller Aussichtslosigkeit weitermachen und an eine Zukunft glauben, gibt es eine simple Erklärung: Wir sind psychologisch gezwungen zu hoffen, auch wenn alle Vernunft und alle Fakten dagegen sprechen.

Gibt es neben diesen neurotischen Gründen für den Glauben an eine Zukunft auch vernünftige Motive für vorsichtigen Optimismus? Spricht angesichts des heraufziehenden Endes wirklich noch etwas dafür, engagiert, selbstlos, moralisch zu denken und zu handeln? Ja! Vielleicht zweierlei dazu:

Wenn man hochfliegende Erwartungen in die »Verbesserung der Welt« auf ein realistisches Maß reduziert, so erscheinen Bemühungen zur Mehrung des Glücks und zur Verringerung des Leidens nach wie vor sinnvoll. Denn wenn wir auch nicht die Menschheit »retten«, so können wir doch sehr wohl einzelnen Menschen helfen, glücklich oder zumindest weniger unglücklich zu sein. Das

gleiche gilt für nichtmenschliche, dennoch glucks- und leidensfähige Lebewesen - für Tiere. Leiden lindern und Glück fördern, dies sind Werte an sich. Letztlich vielleicht die einzigen Werte überhaupt.

Für die Abwendung des Weltuntergangs bedürfte es nichts Geringerem als eines Wunders. In einer solch aussichtslosen Situation spricht allerdings auch nichts dagegen, auf ein Wunder zu hoffen. Und dabei kann der Versuch nicht schaden, dem Wunder etwas nachzuhelfen. Wenn wir nicht unsere letzte Chance verspielen wollen, müssen wir heute so handeln, wie es rational, realistisch und zweckmäßig wäre, wenn wir unendlich viel mehr Zeit, Kraft und Macht hätten.

Ganz ohne Hoffnung sind wir dabei auch im Politischen nicht. Denn es geschehen tatsächlich noch Dinge, die man nur als Wunder bezeichnen und als Beispiele mit in die Zukunft nehmen kann. Etwa das Ende der DDR und der Sowjetunion, genauer- deren friedliches Ende. Damit keine Mißverständnisse entstehen: Ich finde es keineswegs wunderbar, daß die soziale Barbarei, die mit dem Kapitalismus einhergeht, nun auch in diesen Staaten etabliert wird. Aber das vielzitierte und plump bejubelte »Ende des Kommunismus« war einfach insofern ein Wunder, als es in dieser Form und zu dieser Zeit von niemandem für möglich gehalten worden wäre.

Ein weiteres Phänomen sollten wir ebenfalls nicht vergessen: den Umstand, daß wir das jahrzehntelange aberwitzige Wettrüsten, zumindest bis heute, überlebt haben. Dies ist schon angesichts der gigantischen Zahl der angehäuften Waffen etwas äußerst Erstaunliches. Berücksichtigt man dann auch noch den langen Zeitraum und die damit einher-

gehenden »Chancen« von diplomatischen Mißverständnissen und technischen Unfällen sowie die grenzenlose, geradezu kriminelle Beschränktheit vieler agierender Politiker, dann muß man angesichts unseres Überlebens fast zum (wunder)gläubigen Menschen werden. Albert Einstein hat das Problem prophetisch auf den Punkt gebracht. »Das Problem von Friede und Sicherheit ist weit wichtiger als der Gegensatz von Sozialismus und Kapitalismus. Denn erst muß man mal existieren, und dann kann man sich fragen, welche Form man für diese Existenz vorzieht.«

Wenn gefragt wird, warum jetzt noch moralisch handeln, so kann man auch einen Schritt weitergehen: Warum denn überhaupt moralisch handeln? Diejenigen, die nach Glück streben, verfehlen es meist, während diejenigen, die ganz andere Ziele verfolgen, dabei oft ihr individuelles Glück finden. Glück als Sinnstiftung tritt in der Regel als Nebenprodukt des Strebens nach etwas ganz anderem auf - die Paradoxie des Hedonismus. Die Strategie, so der australische Philosoph Singer, das eigene Glück auf einem solchen Umweg zu erreichen, funktioniert allerdings nur bedingt: Sobald man nämlich das angepeilte Ziel erreicht hat, verflüchtigt sich eigentümlicherweise das Glücksgefühl. Es stellen sich Unbehagen und innere Leere ein dem wir zu entfliehen suchen, indem wir uns ein neues Ziel setzen.

So entsteht eine Handlungsspirale, bei der wir stets Höheres anstreben - nur um am Ende erkennen zu müssen, daß das Erreichen selbst aller Ziele, die im eigenen Interesse liegen, nicht wirklich glücklich macht. Deshalb erscheint es sinnvoll, nach einem Ziel Ausschau zu halten, das den engen Horizont der eigenen Interessen möglichst überschreitet. Hier bietet sich, für mein Verständnis jedenfalls, der moralische Standpunkt als der geradezu ideale an: Das Ziel, anderen zu helfen, die Welt nach Kräften zu verbessern, bedeutet eine Aufgabe, bei der wir nie Gefahr laufen, ihr zu entwachsen.

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