- Politik
- Thomas Flügge schrieb eine »sentimentale Chronik«
Was blieb von den 68ern?
Zeitdienst« ist kein Geschichtsbuch und auch kein literarisches Werk mit Bestseller-Verdacht, es ist einfach die individuelle - und individualistische - Chronik eines älter gewordenen (westdeutschen »68ers«. Rückblickend wird Sinngebung eigener Existenz in den ereignisreichen Jahrzehnten deutscher Teilung versucht. Der Autor (Jahrgang 1940) läßt prägende Ereignisse der Geschichte Revue passieren, die junge Leser heute sonst in dieser Zusammenstellung und Sicht kaum finden. Ältere werden dadurch noch einmal daran erinnert. Aus dem vereinigten Deutschland schaut Flügge zurück auf die Nachkriegszeit und die Jahrzehnte der Teilung. Die Fakten vermittelt er korrekt und »ortskundig« wie ein Fremdenführer (Flügges zeitweiliger Beruf). Besichtigt wird aber vor allem der eigene Weg, »sentimental«, wie der Verfasser zugibt. Wer so viel von sich selbst schreibt, setzt sich den Fragen der Leser aus. Eine dieser Fragen lautet: Warum habt ihr, die ihr vorgabt zu wissen, nicht deutlich genug geredet, und warum schweigen die meisten von euch heute fast ganz? Das Buch erinnert fatal an Begegnungen vor 20 Jahren: als die westdeutschen »Linken« unermüdlich sich selbst und die Zeit analysierten, uns kritische Auseinandersetzung mit dem realen Sozialismus lehrten, aber auch damals schon keine Antworten gaben oder wußten. Thomas Flügge schreibt nicht in chronologischer Folge, so daß dem Buch besser der Titel »Zeitkurven« oder »Zeitsprünge« gebührte. Das macht das Büchlein abwechslungsreich und gibt Denkanstöße. Man springt mit dem Autor selbst in seiner eigenen Erinnerung her-
um, aus anderem Blickwinkel natürlich. Thomas Flügge, aufgewachsen in einem liberalen Pfarrhaus im »Bergstädtchen«, dessen wenig interessante Atmosphäre er allzu ausführlich beschreibt, politisch engagierter Theologe, Mitherausgeber der Literaturzeitschrift »Litfaß« und Mitbegründer des »Bildungswerks für Demokratie und Umweltschutz«, erinnert sich an westdeutsche Nachkriegsrestauration, an sein Studium, seine Lehrer, seine Arbeit beim SDS, die Studentenbewegung, Rudi Dutschke und die APO, Vietnam, Palästinenser und die DDR (an die recht wenig), an Veränderungen im westdeutschen Parteiensystem, vor allem an eine prägende Reise nach Israel und Gespräche mit Walter Grab und Lola Landau. Die sind in der sprunghaft verknüpften Biographie versuchte Orientierungspunkte. Ansonsten begegnet man hier allen Namen, die damals »en vogue« waren und zum Teil heute noch sind: Freud, Marx, Bloch und Habermas, Willy Brandt und Heinrich Albertz, Mao, Che und Meinhof, Gandhi, Schweitzer, auch Klaus Gysi fehlt nicht. Alles ist zeitlich richtig geordnet, aber alles zu genau gewußt. Wenn dann der Autor auch noch (zu Beginn) seine Meinung zur »Barmer Erklärung« und (am Ende) zum neuen (Nachwende)-Kirchengesangbuch schreibt, erlöscht das Interesse an Erinnerungen, die »Zeitdienst« leisten wollen. Und doch ist das Buch vielleicht wichtig, symptomatisch sowieso: Thomas Flügges »Sentimentale Chronik« hat die Frage »Was bleibt« (von der DDR) in die Frage »Was ist geblieben« (von den Linken der Bundesrepublik Deutschland) verwandelt. Das ist immerhin ein Anfang.
Thomas Flügge: Zeitdienst. Sentimentale Chronik. Verlag Das Arsenal Berlin. 228 Seiten, broschiert, 32,80 DM.
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