»Wir stehen geschlossen zu Völkerrecht und Menschenrechten«

Martin Schirdewan zum Kampf gegen rechts im EU-Parlament, zu Nahost, seiner Blackrock-Studie und zur neuen Spitze der deutschen Linkspartei

  • Interview: Uwe Sattler
  • Lesedauer: 8 Min.
Martin Schirdewan bei einer Plenarsitzung in Straßburg
Martin Schirdewan bei einer Plenarsitzung in Straßburg

Vor einem Jahr hat sich das neue EU-Parlament konstituiert. Was steht auf der Habenseite der Linksfraktion The Left?

Die Ausgangslage nach den letzten Europawahlen ist politisch schwieriger geworden, weil die extreme Rechte erstarkt ist. Wir als Linksfraktion sind zwar auch stärker geworden, aber jede Mehrheitsbildung im Parlament hängt an den Konservativen. Diese können entweder mit der extremen Rechten eine Mehrheit bilden oder die sogenannte Ursula-Koalition bauen, ein bürgerliches Bündnis aus verschiedenen Fraktionen, benannt nach ihrer Unterstützung für die Kommissionspräsidentin von der Leyen.

Für uns ist ganz klar: Wir sind eine Oppositionsfraktion, die gegen die Politik der Kommission kämpft, die ja im Moment vor allem in Aufrüstung und der Fortsetzung einer menschenfeindlichen Migrationspolitik besteht. Und ebenso klar ist für uns, dass wir als antifaschistische Fraktion mit aller Kraft gegen das weitere Erstarken der extremen Rechten hier im Haus ankämpfen – und damit auch gegen die Zusammenarbeit des Konservativen-Fraktionschefs Manfred Weber mit den Statthaltern von Orbán, Le Pen und Meloni im Europaparlament.

Was heißt das konkret?

Wir wollen den Rechten die Themen nehmen. So haben wir als Fraktion lange darauf gedrängt, dass es einen Housing-Ausschuss im Europäischen Parlament gibt, der nun eingerichtet wurde. Wohnen muss für alle bezahlbar sein. Unsere Abgeordneten setzen sich zum Beispiel dafür ein, dass es einen Mietendeckel auf europäischer Ebene gibt und dass wir mehr sozialen Wohnungsbau in der EU haben.

Wir sind auch die einzige Fraktion, die sich wirklich geschlossen hinter Völkerrecht und Menschenrechte stellt. Das betrifft etwa die Angriffe der Türkei und ihrer islamistischen Milizen auf die Kurdinnen und Kurden. Ich selbst war vor Kurzem in Kurdistan und habe gesehen, welche Schlüsselrolle Rojava für den gesamten Nahen Osten haben kann, wenn es um Demokratie, soziale Teilhabe oder auch Gleichberechtigung von Mann und Frau geht. Und wir haben eine klare Haltung zu den Kriegsverbrechen der israelischen Armee in Gaza. Beide Fragen – Kurdistan und die Palästinenser-Frage – sind von entscheidender Relevanz für eine friedliche Zukunft des Nahen Ostens.

Nicht zuletzt stellen wir auch die Vorsitzende im Sozialausschuss. Das heißt, dass alles, was an sozialer Gesetzgebung in der EU passiert, über unseren Schreibtisch läuft.

Interview

Martin Schirdewan ist Europa­­abgeord­­ne­ter der Linken. Er steht mit der franzö­­si­­schen Politike­rin Manon Aubry der Links­fraktion (The Left) im Europä­ischen Parla­ment vor. The Left gehören 46 Abge­ord­nete aus 20 verschie­de­nen Par­teien an. Schirde­wan ist Mit­glied der Dele­ga­tion für die Bezie­hun­gen zu den USA und arbeitet unter anderem im Wirt­schafts- und Währungs­ausschuss sowie im Aus­schuss für inter­natio­na­len Handel.

Zum Thema Nahost: Spricht die Fraktion da mit einer Stimme?

Es gibt bei Linken immer Diskussionen, und das ist auch okay. Aber wir sind ganz eindeutig in der Verteidigung des Völkerrechts – und ebenso eindeutig in der Verurteilung sowohl des Terroranschlags der Hamas am 7. Oktober 2023 als auch der Kriegsführung der Netanjahu-Regierung, die sich danach in Gaza mit unzähligen Kriegsverbrechen entwickelt hat. Es muss einen sofortigen Waffenstillstand geben, die humanitäre Katastrophe in Gaza muss beendet, die Geiseln müssen freigelassen werden. Wir brauchen vor allem den ernsthaften politischen Willen, der dazu führt, dass es ein sicheres und souveränes Palästina an der Seite eines sicheren und souveränen Israel gibt. Das ist das Ziel.

Ist es auch normal für die Linke, dass es in der Ukraine-Russland-Frage offensichtlich unterschiedliche Positionen gibt? Immerhin gab es in der Fraktion auch Zustimmung zur Lieferung weitreichender Waffen an Kiew.

Ich finde die Antwort sehr offensichtlich: Es ist ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg Russlands. Wir können nicht mit doppelten Standards Völkerrechtsbrüche einerseits kritisieren und andererseits tolerieren. Dass auch die europäische Linke um Antworten ringt, wie Frieden in der Ukraine erreicht werden kann, ist offensichtlich. Und es gibt auch dort etliche Stimmen, die sich jenseits der Diplomatie dafür aussprechen, Selbstverteidigungswaffen zu liefern.

Für mich als Fraktionsvorsitzenden der Linken im Europäischen Parlament ist aber klar, dass unsere Arbeit darin besteht, die Europäische Union endlich zur Unterstützung diplomatischer Initiativen zu zwingen. Endlich raus aus der ausschließlichen Militärlogik. Der Gipfel anlässlich des 50. Jahrestages der diplomatischen Beziehungen zwischen China und der EU Ende Juli sollte unbedingt eine gemeinsame europäisch-chinesische Initiative zur Beendigung des russisch-ukrainischen Krieges starten. Das wäre ein starkes, auch im Kreml nicht zu überhörendes Signal.

Es gibt seit Kurzem auf europäischer Ebene zwei Bündnisse von Linksparteien, in denen die Ukraine-Frage zumindest teilweise unterschiedlich beantwortet wird. Abgeordnete beider Bündnisse sitzen in der Fraktion The Left. Macht sich das in der praktischen Arbeit bemerkbar?

Das macht überhaupt keinen Unterschied zu vorher. Es gibt kein Problem in der Zusammenarbeit der Abgeordneten. Wir sind insgesamt 46 Abgeordnete in der Fraktion, und wir leisten unsere tägliche politische Arbeit hier wirklich kollegial und solidarisch miteinander. Mir ist deswegen kein einziger Konflikt bekannt.

Die Aktivistin und Seenotretterin Carola Rackete, die auf einem Linke-Ticket ins Europaparlament eingezogen ist und auch für die Waffenlieferungen gestimmt hatte, gibt ihr Mandat zurück. War ihre Nominierung nur eine clevere Wahlkampfidee?

Sie sagt ja selbst, dass ihre Kandidatur ein Baustein der notwendigen Öffnung der Partei und ihrer Erneuerung war. Dafür gebührt ihr großer Dank. Ich habe mich gefreut, mit ihr vertrauensvoll zusammenzuarbeiten, und freue mich nun, mit ihrem Nachfolger Martin Günther zusammenarbeiten zu dürfen.

Sie selbst haben vor wenigen Tagen einen Bericht zu Steuerpraktiken des Investmentunternehmens Blackrock vorgelegt. Warum war das nötig?

Diese Studie ist deshalb notwendig, weil die großen multinationalen Unternehmen, unter anderem Blackrock als weltgrößter Finanzdienstleister, kräftig Steuern vermeiden. Die haben ganz gezielt Praktiken entwickelt, wie Gewinne von hochproduktiven Standorten in »Niedrigsteuerländer« verschoben werden können. Und das ist nicht nur bei Blackrock der Fall, sondern auch bei Apple oder bei Amazon. Ich habe jetzt ganz genau auf Blackrock geguckt, weil ich der Ansicht bin, dass die großen multinationalen Unternehmen nicht aus der Pflicht gelassen werden dürfen, ihren gerechten Anteil am Steueraufkommen zu zahlen.

Wie funktionieren diese Praktiken von Blackrock & Co.?

Blackrock verlagert seine Gewinne, die das Unternehmen in Deutschland erzielt, in »Niedrigsteuerländer« wie die Niederlande, eine berüchtigte Steueroase. Und zwar vor allem mithilfe konzerninterner Lizenzgebühren. Bei Blackrock handelt es sich vor allem um die eigene Software Aladin. Das führt dazu, dass Blackrock effektiv viel weniger Steuern in Deutschland zahlt als ein normales Unternehmen. Pro Jahr entgehen uns auf diese Weise 50 Millionen Euro an Steuereinnahmen. Das ist eine Sauerei, und dagegen muss man vorgehen. Es muss endlich eine globale Mindestbesteuerung von multinationalen Unternehmen in Höhe von 25 Prozent umgesetzt werden.

Sie haben sich mit diesem Thema schon in der vergangenen Legislaturperiode beschäftigt. Aber mehr, als auf Missstände hinzuweisen, können Sie doch nicht tun …

Es gab nach diesen Berichten immer wieder große Aufregung darüber, dass Multis und Superreiche sich ihrer Steuerpflicht entziehen, während die Bäckerei an der Ecke und der einfache Haushalt ehrlich ihre Steuern an den Staat abführen. Weil es einfach ungerecht ist. Auch multinationale Unternehmen müssen ihren gerechten Anteil an Steuern leisten. Im Rahmen der Organisation für ökonomische Zusammenarbeit und Entwicklung wurde dann nach jahrelangem politischen Kampf festgelegt, dass Multis mindestens 15 Prozent Steuern zu zahlen haben. Das war ein Schritt in die richtige Richtung. Aber immer noch viel zu wenig!

Und was ist passiert?

Dann wurde Donald Trump in den USA gewählt. Weil die Mindestbesteuerung vor allem die großen amerikanischen Big-Tech-Unternehmen wie Apple oder X oder Amazon oder Meta betrifft, hat er per Dekret veranlasst, dass diese Mindestbesteuerung für »seine« großen Unternehmen nicht gilt. Und jetzt haben jüngst auch die G7, die stärksten Industrienationen, seinem Druck nachgegeben und wollen US-Big-Tech von der globalen Mindestbesteuerung ausnehmen. Das ist ein absoluter politischer Skandal!

Ohne die größten Konzerne ist der OECD-Beschluss nichts mehr wert?

Wir müssen jetzt darum kämpfen, dass es eine europäische Digitalsteuer für die großen Multis gibt und dass das OECD-Abkommen trotzdem in Kraft tritt.

Der deutsche Bundeskanzler hat lange für Blackrock gearbeitet. Er dürfte vehement gegen den OECD-Beschluss oder eine Digitalsteuer sein.

Ich gehe davon aus, dass Friedrich Merz als Bundeskanzler die Politik fortsetzen wird, die er auch als Aufsichtsratsvorsitzender von Blackrock Deutschland gemacht hat, nämlich Unternehmen und Superreichen dabei zu helfen, Steuern zu vermeiden, anstatt die Steuerschlupflöcher zu schließen. Das macht ihn unglaubwürdig in seiner Politik. Er muss als Bundeskanzler das Interesse der gesamten Gesellschaft vertreten und nicht nur die der großen Unternehmen und der Superreichen.

Beim Finanzminister von der SPD, Lars Klingbeil, müsste das Thema Steuergerechtigkeit eigentlich auf offene Ohren stoßen, aber auch von ihm habe ich noch keine Reaktionen gehört. Das heißt, wir werden sowohl CDU/CSU als auch SPD zum Jagen tragen müssen. Aber ich bin mir sicher, dass Die Linke mit aller Kraft genau das tun wird.

Stichwort Die Linke: Sind Sie neidisch auf Ihre Nachfolger*innen an der Parteispitze, die das Problem Wagenknecht nicht mehr haben und nun einen Aufschwung der Linkspartei erleben?

Nein, gar nicht. Ich freue mich für die Partei, dass es ihr nach dieser ganzen Causa Wagenknecht wieder so gut geht. Die Trennung von dieser selbstgerechten Trümmertruppe um Wagenknecht und Co. war die Voraussetzung dafür. Man stelle sich nur eine Sekunde vor, deren Ranwanzen an die AfD würde sich noch immer in unserer Partei abspielen.

Die Zehntausenden neuen Mitglieder, die neue Parteispitze, ein begeisternder Wahlkampf, tolle Spitzenkandidierende, aber auch all diejenigen, die in den schwierigen Zeiten in der Vergangenheit Verantwortung für die Partei getragen haben – sie alle haben ihren Anteil am Aufschwung. Das gibt uns jetzt die Kraft, die notwendigen programmatischen, strategischen, organisatorischen und kommunikativen Entwicklungen voranzutreiben, um dauerhaft eine starke Linke in Deutschland zu verankern.

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