- Politik
- 80 JAHRE RUSSISCHE REVOLUTION - Nationale Frage gelöst?
Vom Völkergefängnis zur Union
Von Karl-Heinz Gräfe
Der erste Weltkrieg mit seinen sozialökonomischen Folgen und die in ihm geborene Revolution verschärften die nationalen Spannungen unter den etwa 200 Völkern des Russischen Reiches und beschleunigten den Zerfall eines der damals größten Kolonialimperien. Von den Bergen Kirgistans und den Steppen Kasachstans bis zu den Turkmenen am Kaspisee erhoben sich schon
1916 die sogenannten fremdstämmigen islamischen Turkvölker; ihr Aufstand konnte noch niedergeschlagen werden.
Als schließlich im dritten Kriegsjahr die Februarrevolution die autoritäre Zarenmacht hinwegfegte und Mitte März
1917 zu einer Doppelherrschaft - Provisorische Regierung und Sowjetbewegung - führte, schien damit auch das Ende des zaristischen »Vielvölkergefängnisses« besiegelt. Die bürgerlichen Machthaber wollten dies jedoch nicht wahrhaben, an dem »einen und unteilbaren Rußland« festhalten. Sie machten nur Scheinzugeständnisse unter dem Druck der anschwellenden nationalen Emanzipation, ihre Politik blieb weiterhin von imperialem Denken geprägt. Als z. B. die ukrainische Nationalbewegung am 10. Juni 1917 die Autonomie der Ukraine ausrief, »warnte« die Provisorische Regierung Kiew »Wählt nicht den verhängnisvollen Weg der Zersplitterung der Kräfte des befreiten Rußland. Reißt Euch nicht vom gemeinsamen Vaterland los!« Anfang Juli 1917 sah sich Petrograd dennoch gezwungen, die Zentrairada anzuerkennen.
Als sich dann aber im gleichen Monat noch der mehrheitlich sozialdemokratische Landtag Finnlands zur »höchsten Gewalt« konstituierte, löste die Kerenski-Regierung diesen kurzerhand auf. Vergeblich forderte die Anfang 1917 gegründete kasachische Nationalpartei »Alasch Orda« gemeinsam mit den Orenburger Kosaken und islamischen Beys eine territoriale Autonomie. Andere Völkerschaften und Nationalitäten indes' wollten sich nicht vom Reich trennen, so die Völker Kaukasiens und die-von den Türken 1915 vom Völkermord bedrohten Armenier Die in Georgien tiefverwurzelte sozialdemokratische Bewegung unter Noe Jordania besaß einflußreiche Vertreter in der gesamtrussischen Sowjetbewegung (Zeretelli, Tscheidse). Im Mai 1917 erklärten 500 Vertreter der Tschu-
waschen, Mari, Mordwinen, Komi, Kalmücken und Tataren der Petrograder Zentralmacht ihre Loyalität und begnügten sich - ähnlich wie die buddhistischen Burjaten und schamanischen Jakuten mit der Einführung ihrer Muttersprache in Schulen und Ämtern.
Die Bolschewiki, die seit April 1917 den Kampf um die Eroberung der politi-
Selbstbestimmungsrecht der Völker den politischen Bankrott des Zaren wie auch von Kerenski mitbewirkt hat. Er formulierte als neue Strategie für seine Partei im Mai 1917. »Fürchtet euch nicht, das Recht auf Lostrennung für alle diese Nationen anzuerkennen. Nicht durch Gewalt soll man die anderen Völker durch einen Bund mit den Großrussen gewinnen, son-
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sehen Macht führten, gewannen ihn nicht nur durch ihre Forderungen nach Frieden, Brot und Boden, sondern auch durch ihre veränderte Strategie in der nationalen Frage. Hatte Lenin 1903 das Selbstbestimmungsrecht des Proletariats über das der Völker und Nationen gestellt, so schloß er ein Jahrzehnt später im Rahmen des zentralistischen sozialistischen Großstaates Rußland »die lokale Selbstverwaltung mit einer Autonomie für Gebiete, die sich durch besondere Wirtschafts- und Lebensbedingungen, durch nationale Zusammensetzung der Bevölkerung usw auszeichnen, keineswegs aus«. Bei seiner Rückkehr aus der Schweiz nach Petrograd im April 1917 erkannte er sofort die enorme politische Sprengkraft des entfesselten Nationalismus im Revolutionsprozeß. Als scharfer Analytiker begriff er, daß das verweigerte
dem durch ein freiwilliges, freies Übereinkommen, das ohne das Recht auf Lostrennung unmöglich ist.«
Wie wenig Lenin aber dennoch die ganze Tragweite der nationalen Frage und ihrer Wechselwirkung mit politischen, kulturellen und sozialökonomischen Prozessen für die praktische Politik der bolschewistischen Partei theoretisch erfaßt und in ihren Konsequenzen durchdacht hatte, wird an seiner vereinfachten Lösungsvariante r für eines der kompliziertesten Phänomene unseres 1 Jahrhunderts ersichtlich: »Je freier Rußland wird, je entschiedener unsere Republik das Recht auf Lostrennung für die nicht großrussischen Nationen anerkennt, desto stärker werden die anderen Nationen nach einem Bündnis mit uns streben, desto weniger Reibungen wird es geben, desto seltener wird es zu einer Lostren-
nung kommen, desto kürzer wird die Zeitspanne sein, für die sich einige Nationen lostrennen werden, desto enger und fester wird im Ergebnis das brüderliche Bündnis der proletarisch-bäuerlichen Republik Rußland mit den Republiken beliebiger anderer Nationen sein.«
Nach der Errichtung der bolschewistischen Sowjetmacht änderte Lenin seine
Die »Deklaration der
Rechte der Völker
Rußlands«,
2. (15.) November
1917
Position nicht grundsätzlich. Die Deklaration der Rechte der Völker Rußlands vom 15. (2.) November 1917 sicherte das »Recht der Völker Rußlands auf freie Selbstbestimmung bis zur Lostrennung und Bildung eines selbständigen Staates.« Es wurde für Finnland, Polen und Türkisch-Armenien auch per Dekret gewährt. Außerdem erhielten mehr als 40 Völker eine Autonomie innerhalb Sowjetrußlands.
Sicherlich war die nationale Komponente im Revolutionsprozeß 1917 maßgeblich dafür, daß Lenin das nationale Konzept in einem wesentlichen Punkt erweiterte: Das zentralistische multiethnische Russische Reich sollte auf der Grundlage des bisher von ihm und seiner Partei verpönten föderalen Prinzips zu einem sozialistischem Großstaat transformiert werden.
Die Art und Weise der Errichtung der bolschewistischen Macht im November 1917 (per Aufstand) sowie wenig später die Auflösung des ersten freigewählten Parlaments im Januar 1918 begünstigten nicht nur den Bürgerkrieg zwischen der großrussischen Machtzentrale und den nationalen Randgebieten, sondern erschwerten auch den anvisierten freiwilligen Zusammenschluß der Völker Rußlands auf föderaler Grundlage und stellten ihn schließlich gar grundsätzlich in Frage. Nationale Eliten lösten sich aus dem Russischen Reich. Die georgischen Menschewiki, armenischen Daschnaken, aserbaidschanischen Mussavatisten oder die dominierende kasachische Partei Alasch Orda, deren Forderungen sich bis dahin in der nationalen Autonomie innerhalb einer demokratischen Republik Rußland erschöpft hatten, gingen nun zur eigenen Staatsgründung über. Türkische, deutsche, britische, französische, amerikanische oder japanische Interventen nutzten diese nationalen Bewegungen für ihre konterrevolutionären und expansiven Ziele gegen Sowjetrußland und brachten die jungen Staaten Kaukasiens, des Baltikums und der Ukraine nun wiederum in ihre Abhängigkeit.
Im Zuge der militärischen Offensive der Roten Armee wurden aber bis 1921 Armenien, Aserbaidschan, Georgien sowie die Ukraine und Belorußland von weißgardistischen und ausländischen Truppen befreit - und sowjetisiert. Lenin sah nun die Chance, die entstehenden Sowjetrepubliken auf föderativer Grundlage zu vereinigen. Dem allerdings setzte der inzwischen mächtig gewordene Generalsekretär und Nationalitätenkommissar, J.W Stalin, sein Konzept eines zentralistischen großrussischen Staates entgegen, was sich letztlich mit der Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Ende 1922 durchsetzen sollte. Für Lenin Anlaß, in seinem politischen Testament zu fordern, »keinesfalls von vorneherein die Möglichkeit auszuschließen, daß man ... auf dem nächsten Sowjetkongreß wieder einen Schritt zurück macht, d.h. die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken nur in militärischer und diplomatischer Hinsicht bestehen läßt, in jeder anderen Hinsicht aber die volle Selbständigkeit der einzelnen (nationalstaatlichen) Volkskommissariate wiederherstellt.«
Lenins Erwartung erfüllte sich nicht; gegen die von ihm favorisierte Föderation siegte Stalins zentralistischer Vielvölkerstaat, der 70 Jahre nach der Oktoberrevolution wie ein Kartenhaus zusammenfiel. - Die »nationale Frage« ist ein Problem, das bisher nirgendwo dauerhaft gelöst wurde bzw nur scheinbar und vorübergehend. Nach 300 Jahren wollen nun auch die Schotten und Waliser wieder mehr als nur eine Kulturnation sein ...
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