»Zwei mal drei macht vier ...«

Der Umgang mit der Rechenschwäche fällt dem deutschen Schulsystem immer noch schwer

  • Jochen Bülow
  • Lesedauer: 4 Min.
Was bei Pippi Langstrumpf lustig und unproblematisch klingt, ist für 130000 Schulkinder in Deutschland alles andere als spaßig: Dyskalkulie (Rechenschwäche) verhindert, dass sie im Matheunterricht auch nur den Hauch einer Chance haben. Ähnlich wie bei der Legasthenie, der Lese-Rechtschreibschwäche, konnten oder wollten die Verantwortlichen das Problem lange nicht erkennen. Das gilt auch für Nordrhein-Westfalen.
Schlechte Mathenoten, allgemeines Schulversagen, soziale Isolation, beruflicher Misserfolg schon bei der Ausbildungsplatzsuche - das beobachten Pädagogen bei Kindern mit Rechenschwäche häufig. Während Legastheniker mit Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben Hilfe bekommen, bleiben ihre Klassenkameraden mit dem Rechenproblem in Nordrhein-Westfalen (NRW) meist allein. Und das, obwohl das Schulgesetz in NRW eigentlich eindeutig ist: »Schulpflichtige, die wegen erheblicher Beeinträchtigung des Lernvermögens im Unterricht nicht hinreichend gefördert werden können, werden ihrem individuellen Förderbedarf entsprechend sonderpädagogisch gefördert«, heißt es im nordrhein-westfälischen Schulgesetz in seiner jüngsten Fassung vom April 2004.
Allein, der Teufel steckt im Detail: Denn ohne verbindliche Anweisung aus Düsseldorf an die Schulen des Landes müssen Eltern betroffener Kinder in jedem Einzelfall erneut um das Recht ihres Nachwuchses kämpfen. Ganz anders beispielsweise in Thüringen: Dort wird vom Ministerium haarklein geregelt, wie betroffenen Kindern zu helfen ist - es gibt nämlich durchaus Fördermöglichkeiten: Noten können ausgesetzt werden, rechenschwache Kinder können mehr Bearbeitungszeit für Klassenarbeiten zugestanden bekommen. Auch die Versetzung in die nächste Klasse muss an der Fünf oder Sechs in Mathe nicht scheitern.
Manchmal klappt das auch gut - besonders dann, wenn das Thema »Dyskalkulie« in der jeweiligen Schule schon bekannt ist. Ein positives Beispiel ist Rebecca Krupp aus der Nähe von Bonn: Rebecca hatte »größte Schwierigkeiten« im Mathematikunterricht, erzählt ihre Mutter, »wir haben wirklich nicht weiter gewusst«. Über private Kontakte, viel Engagement von Rebeccas Eltern - auch in finanzieller Hinsicht - und die Bereitschaft von Rebeccas Lehrern zur Mithilfe konnte dem Kind geholfen werden. Rebeccas neuer Mathelehrer sagt: »Wenn ich nicht wüsste, dass es das Dyskalkulie-Problem gegeben hat, würde ich es nicht merken«.
Oft aber werden Eltern von Amt zu Amt geschickt und erhalten auch in der Schule keine Hilfe - und niemand fühlt sich zuständig. Bei ND-Recherchen in Köln gaben Jugend- und Sozialamt schlicht falsche Auskünfte und verwiesen an die Krankenkassen. Die angeblich zuständige Krankenkasse versicherte daraufhin schriftlich, dass es sich bei Dyskalkulie nicht um eine Krankheit im gesetzlich festgelegten Sinne handele. Stattdessen seien »pädagogische Maßnahmen angebracht« - und das ist auch die richtige Information.
Böse Zungen behaupten, dass die Kommunen schon deswegen kein großes Interesse an dem Thema hätten, weil sie sonst langwierige und teure Therapien bezahlen müssten. Tatsächlich müssen bei »drohendem seelischen Schaden« die Städte und Gemeinden die Therapiekosten übernehmen - und ein seelischer Schaden droht fast immer, wenn die »Beton-Fünf« in Mathe auch mit noch so viel Üben und Nachhilfe nicht wegzubekommen ist. Selbsthilfe geht übrigens meistens schief: Pauken zu Hause, Fernsehverbote oder sonstige Strafen helfen überhaupt nicht, verschlimmern das Problem im Gegenteil meist, berichten Fachleute immer wieder.
Statistisch gesehen sitzt mindestens ein rechenschwacher Schüler in jeder deutschen Klasse. Das so genannte Dunkelfeld, vermuten Experten, ist groß. Normal intelligente, häufig besonders begabte Schüler, werden immer noch viel zu oft zu »Schulversagern« - obwohl sie eigentlich gute Chancen hätten: Nur einem von zehn Kindern kann wirklich kaum oder gar nicht geholfen werden.
Die Chancen auf Besserung sind umso größer, je früher die Dyskalkulie erkannt und behandelt wird. Wirklich helfen können allerdings nur ausgebildete Therapeuten - und die zu finden ist gar nicht so einfach: Es gibt kein gesetzlich festgeschriebenes Berufsbild, dementsprechend tummeln sich auch Scharlatane in dem finanziell interessanten Markt der Dyskalkulie-Therapien. Elternverbände und Fachleute raten deshalb dringend, sich möglichst früh bei unabhängigen Stellen wie Elternverbänden oder Vereinen zu informieren - sonst kann eine erfolglose Therapie leicht einige tausend Euro kosten.
Ein weiteres Problem: Noch immer werden viel zu wenige Lehrer in Sachen Dyskalkulie fortgebildet. Dabei beobachten viele informierte Mathelehrer, dass sie immer häufiger mit Kindern zu tun haben, bei denen Dyskalkulie vermutet werden muss. Elterninitiativen wie der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie haben bereits Verbesserungen für lese- und rechtschreibeschwache Kinder erkämpft.

Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V., Postfach 1107, 30011 Hannover Tel: (0700) 31873811, www.legasthenie.net
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