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  • Politik
  • Kniefall in Warschau. Uraufführung der Oper von Gerhard Rosenfeld in Dortmund

Der junge Brandt tanzt Tango

  • Hansjürgen Schaefer
  • Lesedauer: 5 Min.

Höhepunkt der Oper der Kniefall Willy Brandts (William Killmeier) in Warschau

Foto: dpa/Tschauner

Der Abend im Dortmunder Theater wurde mit Spannung erwartet. Generalintendant John Dew hatte die Idee für diese Novität, als er vor Jahren bei der Vorbereitung seines Leipziger Mozart-Zyklus erstmals deutsch-deutsche Verhältnisse aus der Nähe kennenlernte, vom Für und Wider um den SPD-Ehrenvorsitzenden Willy Brandt erfuhr, einst Regierender Bürgermeister von West-Berlin und danach Bundeskanzler der BRD. Und er fand, daß dessen historische Geste des Kniefalls vor dem Ehrenmal im Warschauer Ghetto während eines Staatsbesuches in Polen würdig, wichtig und musiktheatralischer Gestaltung wert sei.

Die Oper, die er zu diesem Thema für das Dortmunder Theater in Auftrag gab, sollte keine unter Musik gesetzte Brandt-Biographie sein. So vergab er den Auftrag für das Libretto an seinen 26jährigen Regieassistenten Philipp Kochheim. Der war zur Zeit des Brandtschen Kniefalls drei Jahre alt. Den Kompositionsauftrag übernahm der 66jährige, aus Ostpreußen stammende und seit Jahren in Potsdam lebende Gerhard Rosenfeld: Hanns-Eisler-Schüler, Kunstpreis- und Nationalpreisträger der DDR, im Opernmetier erfahren, Schöpfer hoch achtbarer Sinfonik, Chorsinfonik, Filmmusik und Kammermusik. Er hatte es schon mal mit (freilich historischen) Polit-Größen versucht: Eine Oper »Friedrich und Montezuma« entstand für die Berliner Lindenoper, wurde dort allerdings ein »Wendeopfer«. Den »Kniefall in Warschau« hatte er derzeit im Fernsehen gesehen.

Nun kam also in Dortmund eine erste Oper zur deutsch-deutschen unmittelbaren Gegenwart zur Uraufführung. Für Regisseur Dew,, den gebürtigen Kubaner mit britischem Witz und Understatement, für den Librettisten und den Komponisten ergab sich die notwendige Distanz zum Thema und zur Person des ersten SPD-Bundeskanzlers. Dennoch: Das Unternehmen hat seine eigenen Klippen. Da erscheinen neben Brandt zumindest vom Fernsehen her vertraute Gestalten deut-

scher Politik auf einmal auf der Opernbühne: Neben der Brandt-Gattin Rut agieren der pfeiferauchende Herbert Wehner, der weißhaarige Walter Scheel, Franz Josef Strauß, DDR-Ministerpräsident Willi Stoph, DDR-Spion Günter Guillaume, Polens Ministerpräsident Cyrankiewicz. Da wird die Berliner Mauer errichtet, von NVA-Soldaten bewacht. Und das alles auf einer Opernbühne?

Wie schon gesagt: Hier wird keine Brandt-Biographie zelebriert. Man fand einen Ausweg, der dem musikalischen Gestus Sinn gibt: Szenen reihen sich aneinander, die für das Bemühen um menschliche Politik stehen. Geboten werden Erinnerungen an wichtige Stationen eines Politikerlebens: Das beginnt mit dem Ende: Der Sarg des toten Willy Brandt, mit der Flagge der Bundesrepublik bedeckt, wird zur letzten Ruhe getragen. Dann folgt der Rückblick auf Brandts Jugend: Die Jugend eines überzeugten Sozialisten im skandinavischen Exil, im antifaschistischen Kampf. Der Heimkehr ins kriegszerstörte Deutschland folgt die Politikerkarriere: Der Regierende Bürgermeister Westberlins mit Mauerbau, Kennedy-Zitat, Wahlkampf. Und Polit-Alltag bis zur Kanzlerwahl 1969. Stimmenzählung vor dem Fernseher. Kanzler Brandt setzt auf Entspannung. Bahr verhandelt mit Moskau. Au-ßenminister Scheel pendelt eitel dazwischen. Dann Erfurt und Kassel: Die Treffen mit Willi Stoph. Dazwischen immer wieder Polit-Groteske. Endlich: Der Kniefall in Warschau als aus dem Polit-Alltag sich auch musikalisch bedeutsam heraushebendes Symbol. Rainer Barzels scheiternder Mißtrauensantrag gegen Bundeskanzler Brandt. Und: Die Guillaume-Affäre. Der Bundeskanzler sitzt schließlich selbst auf der Anklagebank. Er wehrt sich durch den Rücktritt.

Das Spiel erhält differenzierten Charakter, dadurch, daß Brandt in dreifacher Gestalt auf der Szene präsent ist: Als »Brandt«, als »WB« und als »junger Brandt«, begleitet durch einen »Fremden«. Das gibt die Möglichkeiten der inneren Konfrontation, die auch musikalisch durch Rosenfeld sensibel genutzt werden. Rundum überzeugend wirkt die Szene mit dem Kniefall: Rosenfeld baut

sie musikalisch mit dramatischem Gestus auf, läßt mahnend jüdische Intonationen aufklingen, und der Kniefall selbst vollzieht sich in absoluter Stille, mit kammermusikalisch intensivem Nachspiel. Auch ansonsten hat Rosenfelds Musik im Kammerstil ihre stärksten Momente. Aus denen heben sich dann genau gesetzte, auch vom Chor wirkungsvoll getragene Szenen mit großem Effekt hervor. Dews Regie setzte ebenso auf eindringliches Kammerspiel. Sie zieht daneben aber auch alle Register kritisch-skurrilen, komödiantischen Agierens. Politik aus Show und Kabarett? Der eitel tänzelnde Au-ßenminister Scheel, der grollend an der Pfeife knabbernde Wehner, der emsig die Stichworte aufnehmende Bahr, der phra-

sendreschende Guillaume, der hektische Barzel - eigentlich ein Witzfigurenkabinett, bei dem die Musik ihre Funktion verliert und denn auch Klischees am Band liefert. Arg daneben gerät auch im Musikalischen besonders - manch biographisches Detail: In mild süßlichem E-Dur-licht vollzieht sich die Annäherung des Tango tanzenden jungen Brandt an seine Frau Rut. Sie säuselt ihn an: »Und liebst du mich?«. Er, innig: »Ja, Rut, ja.« Nicht weniger problematisch wird's auch, wenn Politiker-Reden (auch die Brandts) plötzlich ein fast operettenhaftes Pathos erhalten. Da mischt sich Original mit Karikatur Zufall?

Für das Spiel wurde ein hoher Raum geschaffen, mit aufstrebenden Wänden (Heinz Balthes). Die Farben changieren zwischen revolutionärem Rot und sozialdemokratischem Rosa. Es ist ein Versuch. Ernst gemeint und auch ernst zu nehmen. Aber eben doch auch scheiternd im Bemühen, den historischen Kniefall in ein überzeugendes Gesamtbild musikalisch wie Szenisch zu bringen, wie's eben doch die Oper verlangt. Oder steckt in der Politik heute manchmal mehr Oper, als man gemeinhin annimmt? Das Dortmunder Ensemble jedenfalls hat die Ansprüche des neuen Werkes mit Bra-

vour erfüllt. Es wurde ausgezeichnet gesungen, gesprochen und agiert. Das gilt für die zahlreichen Solisten mit den Brandt-Interpreten (Hannu Niemelä, William Killmeier, Sven Ehrke) und Christian Baumgärtel (Der Fremde) an der Spitze, mit Chor und Statisterie und nicht zuletzt eindringlichem und souveränem Spiel des Dortmunder Philharmonischen Orchesters unter dem energischen Alexander Rumpf.

Der Beifall für die Schöpfer und Interpreten am Ende war beträchtlich. Das Dortmunder Theater setzte sich jedenfalls mutig für Neues ein, das unter dem Thema »Gegenwartsoper« geradezu Seltenheitswert im Musiktheater heute hat. Beachtlich übrigens, daß schon zur Uraufführung auch ein 120 Seiten umfassender, gut ausgestatteter Begleitband vom Berliner Parthas Verlag vorgelegt wurde, mit dem Text der Oper, mit Bemerkungen des Regisseurs, des Librettisten und des Komponisten und ausführlichen Kommentaren. Der SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine steuerte ein Vorwort bei. Brandts Lieblingssatz zitierend: »Man hat sich bemüht.«

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