Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

  • Politik
  • Vor 100 Jahren: Der Auftakt zu Bülowscher »Weltpolitik«

Folgenreiche Fehlkalkulation

  • Gerd Fesser
  • Lesedauer: 5 Min.

Berlin, 6. Dezember 1897: Der neue Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Bernhard von Bülow, spricht zum ersten Male vor dem Reichstag. In den regierenden Kreisen wußte man, daß dieser Karrierediplomat das besondere Vertrauen Kaiser Wilhelms II. besaß und deshalb schon jetzt zu den einflußreichsten Mitgliedern der Reichsregierung ge 1 hörte. Für die Öffentlichkeit und auch für das Gros der Abgeordneten hingegen war er ein unbeschriebenes Blatt. Das änderte sich an diesem Tage. Die Ansprache des Staatssekretärs erregte im In- und Ausland enormes Aufsehen. Die Kernsätze der Rede lauteten: »Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem anderen das Meer und sich selbst den Himmel reservierte, wo die reine Doktrin thront - diese Zeiten sind vorüber... wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.«

Bülow hatte noch nie vor einem so gro-ßen Personenkreis gesprochen. Und doch zeigte bereits diese erste Rede den charakteristischen Zug, den alle seine späte-

ren Ansprachen aufwiesen: dieser erfolgreiche Redner setzte nicht primär auf sachliche Argumentation, sondern auf Andeutungen, er spielte mit den Assoziationen seiner Zuhörer.

Drei Wochen zuvor, am 14. November 1897, hatten deutsche Marinesoldaten in China das Gebiet von Kiautschou (Jiaozhou) besetzt. Die Zusammenhänge und Perspektiven dieser Okkupation bildeten den Schwerpunkt von Bülows Rede. Jeder, der die Rede hörte oder dann den Text in der Zeitung las, wußte, was Bülow meinte, wenn er von einem »Platz an der Sonne« sprach: Kolonien und Einflußzonen.

Die Rede Bülows signalisierte, daß das kaiserliche Deutschland eine riskante Expansionspolitik eingeleitet hatte, deren Stoßrichtung sich objektiv vor allem gegen das britische Weltreich richtete. Die Antriebe dieser »Weltpolitik« waren vielfältig. Fast das gesamte Großbürgertum stand hinter dieser Politik. Es setzte gro-ße, häufig stark überzogene Erwartungen in eine ökonomische und koloniale Expansion nach Übersee. Bülow und die anderen Akteure der »Weltpolitik« wollten durch eine erfolgreiche Expansion einerseits die »Sammlung« von Großbürgertum und Großagrariern vertiefen und

festigen. Andererseits waren sie bestrebt, einen möglichst großen Teil des Volkes, insbesondere die Mittelschichten, unter Ausnutzung »nationaler« Parolen für ihre Politik zu gewinnen.

Bülow, der im Oktober 1900 Reichskanzler wurde, blieb zwölf Jahre lang der leitende Politiker des Kaiserreiches. Er hatte die imperialistische »Weltpolitik« nicht etwa erfunden. Er hat sie aber auf griffige Formeln gebracht und sie geprägt. Seine »Weltpolitik« folgte keinem ausgreifenden geheimen Plan. Sie war vielmehr darauf ausgerichtet, vorteilhafte Konstellationen der internationalen Politik improvisierend zu nutzen. 1898/99 gelang es Bülow, die pazifische Insel Samoa, die Marianen, die Karolinen und Polau zu erwerben. Innerhalb der »Weltpolitik« nahm der Bau der Bagdadbahn als eine strategische Konstante eine Sonderstellung ein. Bülow war als typischer »Wilhelminist« in seiner Außenpolitik stets darauf aus, vorzeigbare Prestigeerfolge zu erringen, die nicht zuletzt seine persönliche Machtposition festigen sollten.

Der außenpolitische Spielraum Bülows wurde bald durch die deutsche Flottenrüstung eingeschränkt. Initiatoren der Flottenrüstung waren Wilhelm II. und Ad-

miral Tirpitz sowie Konzerne der Rüstungs- und Werftindustrie. Bülow trug diese Politik mit, wobei er zunächst ihre verhängnisvollen Auswirkungen auf die deutsch-britischen Beziehungen nicht erkannte. Er setzte darauf, die Spannungen, die zwischen den Weltmächten England und Rußland bestanden, möglichst lange auszunutzen (»Politik der freien Hand«).

Die Weltmachtpolitik Bülows erwies sich schließlich als Fehlkalkulation und trug zur Isolierung Deutschlands bei. Großbritannien, Frankreich und Rußland stellten ihre alten Divergenzen zurück und schlössen sich zur Entente bzw Tripleentente zusammen. Der Versuch des Kanzlers, sich 1908/09 mit den Briten über eine Begrenzung des Flottenwettrüstens zu verständigen, wurde von Tirpitz und Wilhelm II. durchkreuzt.

1914 hatte Bülow, der ja schon fünf Jahre lang nicht mehr im Amt war, keinerlei direkten Anteil an der Auslösung des Ersten Weltkrieges. Doch er hatte zwischen 1897 und 1909 auf Expansion und Hochrüstung, zeitweise auch auf Konfrontationspolitik gesetzt und so maßgeblich zur Verschärfung der Spannungen zwischen den Großmächten und zum Anwachsen der Kriegsgefahr beigetragen. Er gehört deshalb neben Wilhelm II., Tirpitz und seinem Nachfolger Bethmann Hollweg zu jenen Exponenten des deutschen Kaiserreiches, die im weiteren Sinne eine besondere Verantwortung für die Katastrophe der Jahre 1914 bis 1918 tragen.

4. Dezember 1892: Francisco Franco Bahamonde in El Ferrol geboren. Am 18. Juli 1936 putschte er gegen die spanische Voksfrontregierung, wurde von seinen Anhängern zum Caudillo (Führer) proklamiert und errichtete nach seinem blutigen Sieg 1939 ein diktatorisches Regime. 1969 ernannte er den Thronprätendenten Juan Carlos zu seinem Nachfolger. Franco starb 1975.

5. Dezember 1867: Jozef Pilsudksi, polnischer General, im Zulowo bei Wilna geboren. 1920 Oberbefehlshaber der polnischen Armee im Krieg gegen Sowjetrußland, riß er vier Jahre später durch einen Militärputsch die Macht in Polen an sich. Er verstarb 1935.

6. Dezember 1922: König Georg V von Großbritannien proklamiert den Irischen Freistaat. Der unter Dominion-Status stehende Staat wird von irischen Nationalisten abgelehnt, die eine vollständige Unabhängigkeit und Souveränität Irlands fordern.

8. Dezember 1542: Maria Stuart, schottische Königin, in Linlithgow geboren. Die Tochter Jakobs V wurde 1568 zum Thronverzicht gezwungen und von Elisabeth I. mit dem Vorwurf, nach der Krone von England greifen zu wollen, gefangengenommen. Nach langer Haft wurde sie 1587 hingerichtet:

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!

- Anzeige -
- Anzeige -