Werbung

Der Kuss am Ölberg und die Legende vom Verrat

Theologen und Schriftsteller haben Judas Iskariot verschieden interpretiert - er muss endlich rehabilitiert werden

  • Ingolf Bossenz
  • Lesedauer: 6 Min.
Im Oktober des vergangenen Jahres schickte der Religionskurs der Stufe 11 des Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasiums in Bonn einen Brief an die Apostolische Nuntiatur in Berlin. Darin hieß es: »Wieso wurden so viele Personen der Bibel heilig gesprochen, Judas jedoch nicht, obwohl doch gerade er entscheidend zu der Erlösung der Menschen beigetragen hat? Durch seinen Verrat an Jesus machte er erst die Kreuzigung und somit den Tod und die Auferstehung Jesu möglich.« Das Schreiben schloss mit der Bitte, »über eine Heiligsprechung des Judas nachzudenken« und »unser Anliegen dem Heiligen Vater, Papst Johannes Paul II., vorzutragen«. Neu ist das nicht. Vor 30 Jahren sorgte der Schriftsteller Walter Jens (geb. 1923) mit seinem Buch »Der Fall Judas« für Aufsehen, in dem gefordert wird, die katholische Kirche »möge ein förmliches Verfahren eröffnen, an dessen Ende die Erklärung stehen solle, dass Judas, der Mann aus Kerioth, in die Schar der Seligen aufgenommen worden sei - ein Märtyrer, der Jesus Christus bis zum Tod die Treue hielt«. An Versuchen, Judas zu rehabilitieren und seinen angeblichen Verrat als Teil eines göttlichen Plans oder als jüdisch-patriotische Tat im Kampf gegen die römische Besatzung in Palästina zu deuten, hat es insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht gefehlt. Genützt, dies muss man konstatieren, hat es allerdings wenig. Der Jünger Jesu mit dem Beinamen Iskariot gilt nach wie vor als Inbegriff des Verrats und des Verräters. So startete ein Fernsehsender unlängst eine Spielshow »Judas Game« (der Name wurde nach Protesten geändert), und eine linke Publikation titelte zum 20. Jahrestag des Perestroika-Beginns »Ein Judas namens Gorbatschow«. Oder man denke an den einstigen Chef der Sozialdemokraten in der Nachwende-DDR und später als IM der Staatssicherheit enttarnten Ibrahim Böhme, über den ein Buch mit dem Titel »Genosse Judas« erschien. Judas war in frühjüdischer Zeit ein durchaus beliebter Vorname, der auf den vierten Sohn des Stammvaters Jakob zurückging. Ein Bruder Jesu hieß Judas, auch ein weiterer seiner Jünger. Heute ist der Name Judas indes derart negativ besetzt, dass das deutsche Namensgebungsgesetz eine solche Benennung eines Kindes zu dessen eigenem Schutz untersagt. Über die Gestalt des Judas Iskariot wird im Neuen Testament eher spärlich berichtet. Umso mehr erfuhr sie in der christlich-abendländisch geprägten Gesellschaft umfängliche Ausschmückung. Im Unterschied zu Jesus, dessen Historizität - bei vielen offenen Fragen - heute weitgehend akzeptiert wird, gibt es zu Judas keinerlei außerbiblische Quellen. Die Zusammenfassung der widersprüchlichen Aussagen in den Evangelien ergibt in Kurzform folgendes Judas-Bild: Für 30 Silberlinge (Judaslohn) verriet er Jesus am Ölberg vor Jerusalem (Judaskuss) und beging später aus Reue über seine Tat Selbstmord. Der »Verrat« des Judas bleibt vor allem deshalb ein Rätsel, weil er in den Evangelien als eigentlich völlig überflüssige Handlung erscheint. Schließlich wirkte Jesus nach diesen Darstellungen nicht im Untergrund, sondern verkündete öffentlich seine Ideen. Monatelang zog er durch Palästina und erlegte sich auch in Jerusalem keinerlei Zurückhaltung auf. Man denke nur an die furiose Vertreibung der Händler und Geldwechsler aus dem Tempel. Da passt es wohl kaum, wie Wedding Fricke in seinem Buch »Der Fall Jesus« schreibt, dass man »ausgerechnet Jesus zu einem kleinen und unbedeutenden galiläischen Wanderprediger herabstuft, zu einem Störenfried, der verhaftet werden soll und bei dem schon die Identifizierung Mühe macht«. Judas sei erst zum Verräter aufgebaut worden, als die frühchristliche Kirche sich formierte und den Bruch mit dem Judentum vollzog, meint William Klassen, Theologieprofessor an der École Biblique in Jerusalem. Eine These, für deren Plausibilität viel spricht. Immerhin tauchte das Wort »prodotes« (griech. Verräter) lediglich an einer Stelle der ursprünglichen Evangelien auf, bei Lukas (6,16), der Judas als den bezeichnet, »der zum Verräter wurde«. Der Theologe Martin Meiser betont in seinem Buch »Judas Iskariot - Einer von uns«, dass jene singuläre Aussage schnell in den kirchlichen Sprachgebrauch einging und bis heute das Bild dieses Jüngers bestimmt. Ansonsten wurde in den Evangelien das Verb »paradidonai« verwendet, was in einem viel weiteren Sinne für »übergeben«, »überreichen« oder »dahingeben« steht. Klassens Theorie: Judas habe als Vermittler bei Geheimkontakten fungiert, die Jerusalems Tempelaristokratie zu Jesus herstellen wollte. Als er mit den Bewaffneten in Gethsemane eintraf, gab er Jesus als Zeichen der Kontaktherstellung einen Kuss. Zwar sollte es, wie Klassen meint, bei der auch von Jesus gewollten Verbindungsaufnahme um die eher akademische Frage einer »Erneuerung des Gottesvolkes« gehen. Gleichwohl witterte Pontius Pilatus die Gefahr einer jüdischen Verschwörung. Als die Hohepriester Jesus dem römischen Prokurator und damit der Hinrichtung auslieferten, sei Judas aufgegangen, dass er zum Werkzeug des Verrats an seinem Meister geworden war. Die Konsequenz: Er gab das Geld zurück und nahm sich das Leben. In dem Roman »Die letzte Versuchung« des Griechen Nikos Kazantzakis (1883-1957, »Alexis Sorbas«) wird Judas zum Verräter aus Treue und Gehorsam. Nachdem Jesus erkannt hat, dass Gottes Reich nur kommt, wenn er sich opfert, bittet er Judas, ihn an die Machthaber auszuliefern: »So muss es geschehen, ich muss getötet werden, und du musst mich verraten, wir zwei müssen die Welt retten, hilf mir.« Ebenso geht der britische Science-Fiction-Autor Michael Moorcock (geb. 1939) in seinem Buch »I.N.R.I.« von einer klassischen Übereinkunft zwischen Jesus und Judas aus: »Es hatte keinen anderen Weg gegeben, es zu arrangieren. Er (Judas - I. B.) glaubte nicht, dass es von Bedeutung sein würde. Die Chronisten würden es schon wieder umarrangieren.« Doch die Chronisten schufen im Gegenteil die Basis für jene Interpretation der Judas-Legende, die wesentlich von antijudaistischen und antisemitischen Motiven geprägt wurde. Bot doch der Verräter mit dem Namen »Judas« die Möglichkeit, eine extrem verabscheuungswürdige Tat mit dem Namen des Volkes »Juden« zu assoziieren. Vor allem im Johannes-Evangelium nahm der Judenhass ausgeprägte Züge an. Dort heißt es nicht nur, Judas sei vom Teufel besessen, sondern die Juden in ihrer Gesamtheit seien Kinder des Teufels: »Ihr habt den Teufel zum Vater und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an.« (Joh. 8,44) Wedding Fricke dazu: »Wann immer Christen ihren Antisemitismus austobten und dabei Judas als negative Leitfigur ihres Hasses wählten, konnten sie sich insbesondere auf das Johannes-Evangelium beziehen.« Der als wichtigster Kirchenlehrer geltende Augustinus (354-430) erklärte Petrus zum Repräsentanten der Kirche, Judas zu dem der Juden. Damit war der Weg endgültig frei für einen kirchenoffiziellen Judas als Verkörperung des jüdischen Volkes, das angeblich an Jesus Christus schuldig geworden war. Die besonders abstoßende Darstellung des Judas (und der Juden) in den Passionsspielen tat ein Übriges, um die Volksfrömmigkeit mit antijudaistischen Klischees zu bedienen. Es war nicht zuletzt Martin Luther, der mit Ekelbildern Judenhass schürte: »... da Judas Ischariot sich erhenckt hatte, daß ihm die Darme zerrissen, und wie den Erhenckten geschicht, die Blase zerborsten, da haben die Juden ihre Diener mit güldenen Kannen und silbernen Schüsseln dabeigehabt, die Judas' Pisse sampt dem anderen Heiligthumb aufgefangen, darnach untereinander die Merde gefressen und gesoffen ...« Dass die Nazis auf Luthers judenfeindliche Schriften zurückgriffen, verwundert nicht. Als 1894 in Frankreich der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus nach seiner Verurteilung wegen angeblichen Landesverrats degradiert wurde, johlten die versammelten Offiziere: »Tod den Juden! Judas, verrecke!« Auch bei den Nazis changierte das Pogromgeschrei zwischen »Juda, verrecke!« (als Synonym für das jüdische Volk) und »Judas, verrecke!«, was zeigt, wie tief sich die Verbindung »Verräter« und »Verrätervolk« in »abendländische« Hirne eingebrannt hatte. Die Rehabilitierung des Judas - sollte sie je gelingen - würde nicht nur mit Ungereimtheiten der Bibel aufräumen. Sie würde den auf christlichem Nährboden gediehenen Antisemitismus eines grundlegenden Vorurteils berauben. Und das wäre, weiß Gott, nicht wenig.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.