Kleiner Gauner, großer Mörder

Scherwitz - ein jüdischer SS-Offizier?

  • Günther Schwarberg
  • Lesedauer: 3 Min.
Mitten im Morden der Nazis hat es Burlesken gegeben: ganz und gar unglaubliche Schwänke zwischen Todesangst und Heiterkeit. Sie geschahen nicht auf dem Weg von den Transportzügen in die Gaskammern, sondern meist in den Außenlagern der großen KZs, wo sich eine Art Kapo-Gesellschaft für längere oder kürzere Zeit etablieren konnte. Brillanten und Gold spielten dabei eine Rolle, Dollars und Alkohol, Lebensmittel und Kleidung. »Ist Scherwitz unser Freund?«, fragte sich ein Jude im Ghetto von Riga. »Oder ist er wie ein Metzger, der ohne Mitleid fremde Kühe schlachtet, sich aber sehr zärtlich zu seinen eigenen Kälbern verhält?« Über jenen Mann, von dem man bis heute nicht weiß: war er ein Jude oder ein Nazi, hat Anita Kugler ein ganzes Buch geschrieben. Ein Betrüger war er in jedem Fall, der sich manchmal als Doktor ausgab, obwohl er Schwierigkeiten mit der Sprache hatte. Der sich von Himmler eine Heiratserlaubnis als Arier erschwindelte und vom Staatskommissar für die Verfolgten, Philipp Auerbach, eine Anstellung als Regionalleiter für die Betreuung der Opfer des Nationalsozialismus in Schwaben. Der sich Fritz Scherwitz nannte und manchmal Eleke Sirewitz. Der ein kleines KZ leitete, die Fabrik »Lenta« in Riga, und der dafür sorgte, dass es den Juden dort gut ging - so lange sie nicht deportiert und ermordet wurden. Der zu Hause eine richtiggehende Ehefrau hatte, aber plötzlich verschwunden war für Jahre und Jahre und sich eine Menge Geliebte suchte. Der es fertig bringt, Pfarrer zu bestechen, die ihre Kirchenbücher fälschen und gegen Bezahlung Juden zu Ariern machen. Es ist wohl richtig, dieser Mann Scherwitz hat den Juden die Zeit im Lager ein wenig leichter gemacht. Aber wenn sie abgeholt wurden zum Erschießen, zum Beispiel im Wald von Rumbula, hat er wahrscheinlich sogar mitgeschossen. Einer der Überlebenden hat gesagt: »Der entscheidende Unterschied zu allen anderen KZs war objektiv der: Wäre uns am nächsten Tag etwas geschehen, wir wären nicht hungrig, müde und krank in den Tod gegangen.« War er nun Kriegsverbrecher oder Wohltäter? Oder war er beides? Ist er vom Gericht wegen Totschlags mit sechs Jahren Haft zu milde oder zu hart bestraft worden? Vor allem, wenn man sein Urteil vergleicht mit den skandalösen Verfahren gegen deutsche KZ-Verbrecher, die meist überhaupt nicht und manchmal nur Kavaliersstrafen bekommen? Aber es gibt keinen Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht. Nur, will ich das wirklich alles wissen? Ob Scherwitz 1919 bei der »Geheimen Feldpolizei« eines Freikorps Dienst tat? Ob er 1921 bei den »Ostwehren« dabei war, die in Schlesien gegen die Polen kämpften? Ob er zur Ordnungs- und nicht zur Sicherheitspolizei gehört hat? Und was er an großen und kleinen Schwindeleien vor, während und nach der Nazizeit sonst noch begangen hat? Eine winzige Nebenbemerkung der Autorin hat mich am stärksten betroffen: Als sie 2001 einen jüdischen Prager Rechtsanwalt interviewt, der viele Lager überlebt hat, Theresienstadt, Riga, Flossenbürg, bittet er sie, auf der Terrasse seines Hauses nicht über jüdische Themen zu sprechen. »Die Nachbarn kennen seine Geschichte nicht, und er möchte sich keine unnötigen Fragen einhandeln.« Das war in Schaffhausen in der Schweiz, sechzig Jahre nach seiner Deportation, und der alte Herr war 92 Jahre alt. So tief sitzt heute noch die Angst vor dem Antisemitismus, mitten in Europa. Anita Kugler: Scherwitz, der jüdische SS-Offizier. Kiepenheuer & Witsch, 758S., geb., 29,90 EUR.
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