- Politik
- Subversive Theorie - von Johannes Agnoli mit Diogenes, Xanthippe, Morus und Marx erklärt
Wenn die Vernunft auf der Straße tagt
Er war einer der wichtigsten Theoretiker der bundesdeutschen Studentenbewegung der 60er Jahre: Johannes Agnoli. Sein gemeinsam mit Peter Brückner verfaßtes Buch »Die Transformation der Demokratie« gilt als einer der einflußreichsten Texte der Außerparlamentarischen Opposition in der BRD Später wurde es von einigen Journalisten gar zur »Bibel der APO« stilisiert. Damals wurde Agnoli nicht nur in der linken Bewegung und im linksakademischen Bereich zur Kenntnis genommen, sondern ebenso in etablierten und staatstragenden Publikationen rezipiert. Heute hingegen werden seine Überlegungen in der etablierten wissenschaftlichen Literatur kaum mehr zur Kenntnis genommen. Aber auch die Mehrzahl der ehemaligen 68er scheint Agnoli vergessen zu haben. Seine Bücher waren bis zu Anfang der 90er Jahre schwer zu kriegen.
Es ist dem Ca-ira Verlag zu danken, daß er sich entschloß, »Gesammelte Schriften« von Agnoli herauszubringen. Nachdem als Band 1 dieser Reihe die
»Transformation der Demokratie« und als Band 2 das für materialistische Staatskritik vielleicht noch wichtigere Buch »Der Staat des Kapitals« erschienen sind, liegt seit einiger Zeit als dritter Band eine leicht überarbeitete Fassung eines Mitschnitts von Agnolis letzter Vorlesung an der Freien Universität Berlin vor
Der inzwischen emeritierte Professor für Politikwissenschaft versucht, von den antiken und christlichen Mythen - Eva betrachtet er als Verkörperung der ersten Subversion, da sie nicht die Stimme Gottes, sondern die der Ratio vernahm - über das Mittelalter bis zur Neuzeit die Geschichte der theoretisch-intellektuellen und der praktischen Subversion nachzuzeichnen. Man stößt hier auf den griechischen Kyniker Diogenes, die römischen Grachen, den italienischen Chiliasten Joachim von Flore, Thomas Müntzer, den klassischen Utopisten Thomas Morus oder Diderot. Agnoli zeigt andererseits aber auch das subversive Potential von Xanthippe auf, der Frau des Sokrates, die heute in der Literatur und im Alltagsverstand nur als Sinnbild des »hysterischen Weibes« gilt, ebenso das des Freiherrn von Knigge, der heute fälschli-
cherweise ausschließlich als bürgerlicher Anstandsfanatiker bekannt ist. Alles Beispiele für einen möglichen anderen Umgang mit politischer Philosophie- und Ideengeschichte. Agnoli legt dar, wie widerständige, subversive oder auch einfach nur unbequeme Denker im Mainstream der Wissenschaften mißachtet, fehlinterpretiert oder gar pathologisiert wurden und werden.
Deutlich werden die Grundzüge von Agnolis Kritik der Politik. Wenn es zum Wesen der Subversion gehört, daß der Mensch sich dagegen wendet, immer nur Gegenstand, reines Objekt zu sein, so müßte sich die Subversion auch gegen die Politik richten, denn in ihr ist der Mensch »nie Mittelpunkt«, wie die Parteien vorgeben, »sondern er ist ein Mittel der Politik - etwa im Wahlakt als bloßes Mittel der Machtverteilung der Parteien untereinander« (S. 29). Gegen die Institutionalisierung der Subversion setzt Agnoli seine prinzipielle Parlamentarismuskritik. Am Beispiel der »Anti-Institution« des römischen Volkstribunals belegt er, daß Macht nicht dann wirksam kontrolliert und schon gar nicht sabotiert werden kann, wenn sich die Subversion
auf die Institutionen der Macht einläßt, sondern nur dann, »wenn die Vernunft auf der Straße in Permanenz tagt«. (S. 79) Als Konsequenz aus dieser Kritik der Politik geht es Agnoli auch perspektivisch gesehen nicht um eine Rettung der Politik oder um eine Verteidigung der politischen Sphäre gegen die ökonomische, sondern schlicht um die Abschaffung der Politik. Gegen die Gleichsetzung von Politik und Öffentlichkeit im bürgerlichen Bewußtsein hält er an der Marxschen Kommunismusvorstellung fest, »einer Öffentlichkeit ohne politischen Charakter, das heißt einer Öffentlichkeit ohne Herrschaftsstrukturen« (S. 73).
Den Begriff der Subversion definiert Agnoli anfänglich relativ eindeutig als Form menschlicher Emanzipation in finsteren, also in repressiven und konterrevolutionären Zeiten. Die Subversion ist demnach nicht die Revolution selbst, sondern ihre Vorbereitung. Subversion ist nicht Negation der Negation, was nach Agnoli Versöhnung implizieren würde, sondern »Negation sans phrase, Negation als destructio, als eigenwillige Vernunft« (S. 16). Sie ist eine sowohl theoretische als auch praktische Tätigkeit, die die Ord-
nung angreift, ohne jedoch wie die Vertreter und Vertreterinnen der konformistischen Revolte eine »noch ordentlichere Ordnung« (5.14) einzufordern. Historisch läuft die Subversion auf das Widerstandsrecht hinaus. Hinter ihr steht das Grundmotiv, subjektive Rechte gegen objektive Rechtssysteme zu verteidigen. Die Abgrenzung des Begriffs der Subversion vom Begriff der Revolution oder auch von Rebellion, Revolte, Häresie und Widerstand wird von Agnoli hier allerdings nicht konsequent durchgehalten, die Begrifflichkeiten verschwimmen ein wenig. Dafür ist Lesegenuß garantiert; Agnoli läßt Anekdoten einfließen und verteilt nicht wenige ironische Seitenhiebe. Allen, die nie in den Genuß kamen, einer Vorlesung Agnolis beizuwohnen, sei das Buch empfohlen. Agnolis »Subversive Theorie« ist aber nicht nur auf Grund des Lesevergnügens, die sie im Unterschied zu den meisten Philosophiegeschichten bieten kann, von Interesse, sondern auch wegen ihrer Aktualität. Die Aktualität der Subversion liegt auf der Hand. Schon lange waren die Zeiten nicht mehr so finster und die Notwendigkeit einer grundlegenden Veränderung so groß. Fragt sich nur, warum subversives Denken und Handeln heute dennoch so selten anzutreffen sind.
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