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  • Politik
  • Die Dichterin Sylvia Plath und ihre Tagebücher

Schreiben im Kerker der Depressionen

  • Wolfgang Wicht
  • Lesedauer: 4 Min.

Das ist der Stoff, aus dem Mythen gewebt werden: Eine 32jährige, eine der vielleicht begabtesten Dichterinnen des Jahrhunderts, verheiratet mit Ted Hughes, dem seinerzeit wichtigsten jungen Dichter Englands, Mutter zweier Kinder, Exzentrikerin und Frau mit schriftstellerischem Selbstverwirklichungsanspruch, dreht am 11. Februar 1963 in ihrer Londoner Wohnung den Gashahn auf.

Jeder, der sie kannte, mochte schokkiert und doch nicht völlig überrascht gewesen sein: Der Freitod war in ihrem Leben eine stets vorgestellte Tat. Zum konkreten Anlaß freilich weiß man nichts. Ihr zweites Kind, ein Sohn, war gerade 13 Monate alt; ihr Roman »Die Glasglok-

ke« war just, im Januar, erschienen; ihr erster Gedichtband »The Colossus« hatte seit Oktober 1960 ein respektables Echo gefunden; der voraufgegangene Herbst war eine ihrer produktivsten Perioden als Dichterin, Entstehungszeit der »Ariel«-Gedichte, die 1965 dann von Hughes herausgegeben wurden. Ted Hughes aber hatte sich auch im Oktober 1962 von ihr getrennt. Die Tagebücher lassen erahnen, daß dies psychisch ein letztendlich tödlicher Schlag für sie gewesen sein könnte. Die vorliegende Ausgabe endet mit einer Eintragung vom 16. Mai 1962. Zuletzt hat Sylvia Plath - bis zu ihrem Tod - ein gesondertes Notizbuch geführt. Hughes bezeugt in seinem kurzen, schönen Vorwort, daß er es vernichtet habe, »weil ich nicht wollte, daß ihre Kinder das je lesen müßten«.

Ihr legendärer Ruhm war ein posthumes Ereignis. Zu Lebzeiten gelang es ihr,

einzelne Gedichte und Kurzgeschichten da und dort in Magazinen zu veröffentlichen. Vieles aber wurde auch, wie man jetzt nachlesen kann, abgelehnt. Vor allem mit der endlich 1971 erfolgten Veröffentlichung von »Die Glasglocke« in den Vereinigten Staaten, wo sie am 27. Oktober 1932 in einem Massachusetts-Ort geboren wurde, stieg sie zur Kultfigur auf. Der autobiographische, formal aber eher altmodische Roman erreichte in seiner Paperback-Ausgabe allein in den 70er Jahren 24 Nachauflagen. Die Verfilmung blieb nicht aus. Ihre Kurzgeschichten er* schienen in Verlagsbänden. Noch im August 1993 wurde es zum überall diskutierten Ereignis für das kulturelle Amerika, als der »New Yorker« in Fortsetzungen eine neue Studie über Plath und Hughes von Janet Malcolm zusammen mit Gedichten der Schriftstellerin veröffentlichte.

Der Mythos Sylvia Plath legitimiert die deutsche Übersetzung der Tagebücher Wer mehr über den Lebenslauf erfahren will, dem sei ihre Lektüre nachdrücklich empfohlen. Anders als in der Außensicht der bekannten Biographie von Anne Stevenson (»Bitter Farne«, 1989), der man Voreingenommenheit im Sinne von Ted Hughes vorgeworfen hat, eröffnet sich der Blick in die Intimität subjektiver, authentischer Befindlichkeit. Der Leser ge-

wahrt eine an ihren inneren Widersprüchen, an ihren Ängsten, an ihrer Überspanntheit erstickende ^ Frau. Sie schwankt zwischen Selbstmitleid und Arroganz, zwischen passiver, auch erotischer, Emotionalität und schneidendem Intellekt, zwischen quälender Selbstbefragung und Schaffenseuphorie, zwischen dumpfen Sehnsüchten und kühlem Kalkül, zwischen Lust und Frust. Der erste Satz des Buchs, im Juli 1950 aufgeschrieben, formuliert ahnungsvoll, was gültig für ihr Leben bleiben sollte: »Vielleicht werde ich nie glücklich sein ...« Die beiden in unzähligen Varianten wiederkehrenden Leitmotive sind das Sterben und das Gefangensein. Trotz aller Befreiungsversuche, trotz psychiatrischer Behandlung, dem Kerker ihrer Depressionen und psychischen Konflikte konnte sie nicht entfliehen. Aber mit klinischer Distanz wußte sie bei ihrer selbstbeobachtenden Niederschrift immer genau, wie es um sie stand. Ein tragisches Leben.

Die Tagebücher erscheinen durchaus als therapeutische Übung. Die Aufzeichnungen, mit autistischen Äußerungen bedeckt, sind Zuflucht, in denen sie versucht, ihre autobiographische Attraktion wiederzugewinnen. Plaths ganze Welt schizoider Spaltungen in gegenpolig konstellierte Bewußtseinsgruppen, die sie

selbst »zwei elektrische Ströme« (20. 6.1958) nennt, ist in psychoanalytischer Sicht gewiß eine große Fallstudie zur Depression. In ihrem dynamischen Schreiben, voller kühner Metaphorik, wunderbarer Beobachtungen und poetischer Dichte, hat das Ausschreiten des subjektiven Raums aber auch ganz allgemein ungeheure Faszination.

Herausgeberisch ist der Band leider unbefriedigend. Frances McCullough hat laut Vorwort-Information von Ted Hughes nur ein Drittel des am Smith College in Northampton (Mass.) lagernden Materials ediert. Die Auswahlkriterien bleiben unklar Die unsystematisch eingestreuten Zwischenbemerkungen der Herausgeberin ergehen sich in pompöser Belanglosigkeit. Am ärgerlichsten sind die sich zuweilen häufenden Textauslassungen, für die pauschal fadenscheinige Gründe genannt sind. Sie erreichen das Ausmaß von Verfälschung. Trotzdem: Sylvia Plath behauptet sich spielend gegen ihre Herausgeberin. In der Frankfurter Ausgabe auch dank der feinen deutschen Übersetzung von Alissa Walser

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