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  • Politik
  • Vor 20 Jahren: Treffen Honecker - Schönherr

»Wir werden es beide schwer haben...«

  • Horst Dohle und Joachim Heise
  • Lesedauer: 5 Min.

Protokollarisch steif: Honecker empfängt Schönherr, 6. März 1978

Am 11. Januar 1988 kam der Staatssekretär für Kirchenfragen, Klaus Gysi, in sein Amt und teilte seinen Mitarbeitern kurz und knapp mit: Das »Große Haus« hat entschieden: »Am 6. März gibt's nichts zu feiern!«

Zehn Jahre zuvor, am 6. März 1978, hatte sich Erich Honecker zur Überraschung der Öffentlichkeit in Ost und West mit dem Vorsitzenden der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR im Staatsratsgebäude getroffen. Der Bischof wurde begleitet von den Mitgliedern des Vorstands der Konferenz, so vom Magdeburger Bischof Werner Krusche und dem Leiter des Sekretariats des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, Oberkonsistorialrat Manfred Stolpe. Honecker wurde unter anderem flankiert von dem für Kirchenfragen zuständigen ZK-Sekretär Paul Verner und dem Stellvertretenden Staatssekretär für Kirchenfragen, Hermann Kalb (CDU).

So mancher ND-Leser rieb sich am folgenden Tag die Augen, als er auf der ersten Seite seines Zentralorgans Honecker mit den Kirchenleuten in freundlicher Runde lächeln sah. Noch zehn Jahre zuvor war Schönherr in einer ZK-Information als »Statthalter des Westberliner Konsistoriums« bezeichnet worden, der »trotz formaler Beteuerungen seiner Unabhängigkeit« in entscheidenden politischen Situationen dem Westberliner Bischof Scharf »hörig« sei. Er folge ohne Einschränkungen der Linie der EKD und gebe sich als deren Vertrauensmann zu erkennen.

Noch mehr als die Bilder von der Begegnung, die am Abend des 6. März über die Bildschirme flimmerten, sorgte der offizielle ADN-Text für Überraschung.

Kaum zu glauben, worüber man sich verständigt hatte: kirchliche Bauvorhaben, kirchliche Sendungen im DDR-Fernsehen, Lutherjubiläum 1983, Altersversorgung der auf Lebenszeit angestellten kirchlichen Mitarbeiter, Literatur- und Zeitschriftenimpott ffü^die Kirche, ?Bestandsgarantie für kirchliche Kindergärten, Fragen der Bewirtschaftung von Kirchenländereien, Gebührenregelung für kirchliche Friedhöfe, religiöse Handlungen in staatlichen Feierabend- und Pflegeheimen, religiöse Betreuung in Strafvollzugseinrichtungen.

Unerhörtes auch in den Statements. Honecker: Befriedigung über Friedensengagement der Kirchen, Mitwirkungsmöglichkeiten der Kirchen an den »humanistischen Zielen des Sozialismus«, »Wertschätzung und großzügige Unterstützung« der diakonischen Arbeit, »Gleichachtung und Gleichberechtigung als Norm in den zwischenmenschlichen Beziehungen«, Zugang zu hoher Bildung für jeden Bürger, darunter gerade Jugendlicher, Verständnis für Freiheit der Religionsausübung, Hochschätzung der ökumenischen Tätigkeit der Kirchen!

Schönher: »Verantwortung für die gleiche Welt und den gleichen Menschen«, Mitverantwortung des Christen für das Ganze und für den einzelnen und sein Verhältnis zum Ganzen, Wegfindung der Gemeinde und des einzelnen in dieser Gesellschaft in »Freiheit und Bindung des Glaubens«, Verwirklichung der Schlußakte von Helsinki, Friedenssicherung, Sicherheit und Gewährung der Menschenrechte, Vertrauen stiften, Redlichkeit des anderen nicht in Frage stellen. Und wörtlich: »Offenheit und Durchsichtigkeit sind das Barometer des Vertrauens. Das Verhältnis von Staat und Kirche ist so gut, wie es der einzelne christliche Bürger in seiner gesellschaftlichen Situation vor Ort erfährt.« (Daß gerade dieser Satz über-

haupt im ND zu lesen war, ist einzig Honecker geschuldet.)

Nichts von dem, was in den Wochen und Monaten zur Vorbereitung dieses Treffens ausgehandelt wurde, drang an die Öffentlichkeit. Daß sich die Kirche auf eine derartige »Geheimdiplomatie« eingelassenhatte, stieß schon jdamals auf Kritik. Mitglieder und Funktionäre der SED waren hingegen längst daran gewöhnt, daß Honecker und seine Führung selbstherrliche Entschlüsse faßten.

Schönherr schreibt dazu in seinen 1993 erschienenen Erinnerungen, daß er und seine Delegation sich des Risikos derartiger Verhandlungen sehr wohl bewußt gewesen, es aber dennoch eingegangen seien. Sie hätten gewußt, wie empfindlich die Staatsführung auf die Westpresse reagierte und daß sich Honecker und die Seinen auch von der Moskauer Führung wegen derartiger Gespräche nicht gern zur Rede stellen lassen wollten. Sicher wäre auch Schönherr selbst in seinen Gremien unter erheblichen Erwartungsdruck geraten.

Als Honecker und Schönherr nach dem Treffen den Raum verließen, nahm der SED-Chef den Kirchenmann zur Seite und sagte: »Herr Bischof, wir werden es beide schwer haben, das, was wir besprochen haben, bis an die Basis durchzusetzen.«

Gab es zehn Jahre später also wirklich nichts zu feiern? Die Antwort auf diese Frage ist heute wie vor zehn Jahren umstritten. In der Tat waren Verbesserungen im Staat-Kirche-Verhältnis nicht zu übersehen. Ob dies, wie es Schönherr gewünscht hatte, auch der einzelne Christ in seiner Schule, seinem Betrieb, kurzum in seinem Alltag persönlich erfahren hatte, ist sicher nicht nur, wie heute oft unterstellt, mit Nein zu beantworten. Die Hoffnung von Honecker auf ein konfliktfreies Verhältnis zu den Kirchen erfüllte sich allerdings nicht, wie sich schon einen Monat später im Zusammenhang mit dem

kirchlichen Protest gegen die Einführung des Wehrunterrichts zeigen sollte. Alte Konflikte blieben, neue kamen dazu: Friedensdekaden und »Schwerter zu Pflugscharen«, Friedens-, Menschenrechtsund Umweltgruppen, Durchsuchung der Umweltbibliothek im November 1987, Verbote von Kirchenzeitungen, Verhaftungen am Rande der Luxemburg-Liebknecht-Demo im Januar 1988.

Nach Feiern war angesichts dieser Entwicklung niemanden mehr zumute. Aber gab es da nicht 1987 auch den Berliner Kirchentag, den Olof-Palme-Friedensmarsch und 1988 Lothar Warnekes aufregenden Film »Einer trage des anderen Last«? Aber auch das: Am 19 Februar wird der Konferenzvorsitzende, Landesbischof Leich, zu ZK-Sekretär Jarowinsky

vorgeladen und »abgemahnt«. Am 3. März kann Honecker seine Verärgerung über die Kirchen in einem Gespräch mit Leich kaum mehr verbergen. Dann der 6. März 1988: Zehn Jahre nach dem Treffen Honecker - Schönherr umstellen DDR-Sicherheitskräfte die Sophienkirche im Zentrum Berlins, verhaften Ausreiseantragsteller und Gottesdienstteilnehmer auf offener Straße.

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