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  • Politik
  • Wenn der Kuckuckskleber kommt

Hochkonjunktur für Gerichtsvollzieher

  • Frank-Rainer Schurich
  • Lesedauer: 7 Min.

Über Schulden redet man»nicht, Schulden hat man, heißt es lapidar. Das klingt einleuchtend. Aber wenn's mit dem Abzahlen klemmt und Mahnungen unbeachtet bleiben, steht eines schönen Tages der Gerichtsvollzieher vor der Tür, diese Persona non grata, die wir lieber von hinten sehen. Witze leben von ihr, wie auch Komödien und Schwanke ohne sie wahrlich ärmer wären. Aber woran mag es liegen, daß es keine sprichwörtlichen Redensarten über diesen Rechtspflegeberuf gibt? Die Antwort ist einfach. Der Begriff, viel zu spröde und viel zu neu, hatte keine Chance, das Volksbewußtsein zu inspirieren. Erst 1877 durch § 155 Gerichtsverfassungsgesetz reichseinheitlich eingeführt, klingt die Berufsbezeichnung »Gerichtsvollzieher« wirklich etwas hölzern. Dabei werden nicht »Gerichte vollzogen«, wie man zunächst denken mag, sondern vor allen Dingen Schulden eingetrieben. Von Staats wegen. Ihre mittelalterlichen Vorgänger nannten sich schlicht »Büttel«. Als Gerichtsdiener und einst sakrosankte Personen hatten sie vielerlei Aufgaben: Ladungen zustellen, Sachen pfänden, als Richtergehilfe, Gefängniswärter oder gar als Scharfrichter agieren. Vor allem die Verbindung mit dem Henkersamt war es dann, die die Person des Büttels in Deutschland allmählich in Verruf brachte. Also mußte eine neue Berufsbezeichnung her!

Den »Gerichtsvollzieher« finden wir als Amtstitel zuerst 1848 im Herzogtum Nassau. Aber weil von alters her juristische Berufe meistens aus der Sicht der Betroffenen mit Spott bedacht wurden, erfand die Volksseele neben bösen Charakterisierungen wie »Genickabbeißer«, »Onkel Grausam« und »Hautabzieher« zahlreiche Synonyme, die sich überwiegend an die Haupttätigkeit des Pfändens anlehnten: »Kleisterfritze«, »Siegelpflasterer«, »Batzenschnapper«, »Karl Kuhfang« (in bezug auf die zu pfändenden Kühe), »Kopfkissenstehler«, »Kuckuckskleber« ... In der Tat, heute identifiziert fast jeder den »Mann mit dem Kuckuck« treffsicher als Gerichtsvollzieher. Auf der alten preußischen Pfandmarke prangte nämlich ein preußischer Adler, und weil der Kuckuck seine Eier nun mal in fremde Nester legt, war schnell klar, daß es sich nur um einen Kuckuck handeln könne, der da auf dem gepfändeten Gegenstand in der Wohnstube klebte. So wurde der Kuckuck die scherzhafte Bezeichnung für das gesamte Pfandsiegel.

Wie die Namen für die ungeliebten Beamten im einzelnen auch ausfallen, die deutschen Gerichtsvollzieher sehen einer frohen Zukunft entgegen, die sie mit den Mitarbeitern der Arbeits- und Sozialämter teilen. Mit einer zeitlichen Verzögerung sind im Pfändungsbereich die Folgen der wirtschaftlichen Rezession spür-

Foto: Joachim Fieguth

bar 1996 wurden von den ca. 4000 Kukkucksklebern in fast 10 Millionen Zwangsvollstreckungsaufträgen über 2,6 Milliarden Mark eingezogen - Tendenz steigend. »Man kommt mit dem Geldeintreiben kaum nach«, meinte jüngst ein Gerichtsvollzieher Und alle wissen es: Eine der Hauptursachen fürs Schuldenmachen ist die Arbeitslosigkeit. Es begann in den 50er Jahren der alten BRD, als die Wirtschaft das erste Mal nach dem Krieg wieder aufblühte. Der persönliche Kleinkredit für jedermann wurde erfunden. Jeder hatte inzwischen seinen Kochtopf, und die Wirtschaft wollte nun wieder neue Kochtöpfe an den Mann bringen. 1970 waren es schon 40 Milliarden Konsumentenkredite, heute sind es mindestens 440 Milliarden Mark. Neu ist, daß die Kredite nicht vergeben werden, um tatsächlich etwas anzuschaffen.

Die Hälfte aller Kredite dient nur noch der Umschuldung, sie schlagen sich wirtschaftlich gar nicht mehr in neue Autos oder neue Fernseher um. Selbst Auszubildende sollen schon 15 000 Mark und mehr Schulden haben, weil sie für Statussymbole wie Handy, Auto und Markenklamotten viel mehr Geld benötigen, als sie augenblicklich zur Verfügung haben. »Heute kaufen, morgen zahlen«, plärrt es ja täglich in der Werbung. Familien bestellen bei Versandhäusern flei-ßig weiter, obwohl die vielen alten Rech-

nungen noch nicht bezahlt sind, jetzt auf die Namen der Kinder. So sind in Deutschland schon Säuglinge hoffnungslos überschuldet. Viele Leute im Osten haben das Schuldenmachen nach der Wiedervereinigung blitzschnell gelernt. Der Kaufrausch ist aber verflogen, seit sich der Kuckuck in so manchem Haus als Dauergast eingenistet hat. Versicherungen, Staubsaugerhersteller, Versandhäuser, Kreditgeber und sonstige Branchen der Haustürgeschäfte waren wie die Wölfe in ein neues Absatzgebiet eingefallen und hatten mit der marktwirtschaftlichen Unerfahrenheit der neuen Bundesbürger herdenweise Schindluder getrieben. »Ungefähr nach einem Jahr, nachdem eine solche Firma in Hellersdorf und Marzahn ihre Kreise gezogen hat«, erzählt mir ein Gerichtsvollzieher, »begaben wir uns in ihre Spur, weil sich die Leute einfach übernommen hatten, ihre Raten nicht mehr zahlen konnten. Dann mußte der schöne Staubsauger wieder abgeholt werden. Nicht selten hatte man solchen armen Brüdern und Schwestern im Osten einen Staubsauger mit allen Raffinessen aufgeschwatzt, die weder Fußbodenbelag noch Teppiche hatten.« Und ein Ehepaar, beide des Lesens und Schreibens unkundig, überredete ein Vertreter gar zu einem in Leder gebundenen Lexikon mit einem Gesamtwert von mehreren tausend Mark ...

Natürlich, die Staubsauger und die ersten Lederbände wurden vom Gerichtsvollzieher abgeholt, die Schulden jedoch blieben. Mancher Haushalt brachte es in kurzer Zeit auf 10, 20 Gläubiger, die alle nun ein Stück von dem Kuchen abhaben wollten. Doch zu holen gibt es selten etwas. »Kuckucks klamme Kunden«, titelte kürzlich eine Zeitung. 95 Prozent aller Zwangsvollstreckungen sind fruchtlos, was heißt, es gibt kein Geld und auch nichts zum Pfänden. Denn § 811 der Zivilprozeßordnung beschreibt die unpfändbaren Sachen der Haushaltsführung oder Berufsausübung. So sind persönliche Kleidungsstücke, Wäsche, Betten, Haus- und Küchengerät ebenso unpfändbar wie Nahrungsmittel für vier Wochen. Einem Journalisten kann nicht die Schreibmaschine oder der Computer weggenommen werden - wie bei einem Polizisten Uniform, Pistole oder Handschellen zum unpfändbaren Gut gehören. Im Vergleich zu anderen Ländern wirkt die deutsche Methode des staatlichen Geldeintreibens außerordentlich human. In Griechenland sollen zum Beispiel säumige Schuldner gleich in den Knast gesteckt werden und solange dort schmoren, bis gnädige Verwandte sie wieder auslösen. Auch in den USA kann der Sheriff, der mit erheblicher zivilrechtlicher Kompetenz ausgestattet ist, fast alles mitnehmen, was nicht niet- und

nagelfest ist. Null Pfändungsschutz. Wenn mangels Masse nichts gepfändet werden kann, gestaltet sich das Verhältnis des Gerichtsvollziehers zu seinen Mandanten relativ konfliktfrei. Natürlich, er bringt schlechte Nachrichten, erinnert mit seiner Anwesenheit an Schulden, die man nicht zahlen kann, an Verbindlichkeiten, die man lieber vergessen würde. Und er will Geld eintreiben, das man nicht hat. Aber es ist ja nichts zu holen das beruhigt irgendwie und stimmt friedlich. So wird der Gerichtsvollzieher zuweilen als guter Bekannter empfangen, kriegt sogar eine Tasse Kaffee. Nur beim Abschied ist des Schuldners Gefühl wieder gemischt, denn der Kuckuckskleber wird wiederkommen, hat er doch die Gläubiger und das Gericht im Nacken.

Das Bild vom »Mann mit der Kuckuck« stimmt natürlich aus zweierlei Gründen lange nicht mehr. Auf der einen Seite gehört zu seinen Aufgaben nicht nur das verpönte Kleben von Pfandsiegeln, sondern auch die Zustellung von gerichtlichen Ladungen, die zivilrechtliche Verhaftung, zum Beispiel zur Erzwingung der eidesstattlichen Versicherung, die jedermann als Offenbarungseid kennt, und die Zwangsräumung, wenn die Miete nicht mehr gezahlt wurde. Und andererseits drängen immer mehr Frauen in den Beruf. 550 sind es mittlerweile in Deutschland. Tendenz ebenfalls steigend. Das mag daran liegen, daß Frauen in Konflikten ausgleichender wirken können und daß es eine moralische Schranke bei den Schuldnern gibt, die körperliche Angriffe auf eine Gerichtsvollzieherin einfach nicht zuläßt. Allerdings müssen sie wie ihre männlichen Kollegen oft verbale Attacken über sich ergehen lassen.

Jene leben dennoch viel gefährlicher Einer verliert im vorigen Jahr sogar sein Leben, als er versucht, das Haus des Schuldners Herbert Geil in Breitscheid-Erdbach zwangsweise zu räumen. Der 49jährige Obergerichtsvollzieher Bernd Dietermann, tätig beim Amtsgericht Herborn und immer auf Ausgleich bedacht, läßt am 16. Oktober 1997 die ihn begleitenden vier Polizisten sowie Möbelwagen und Hilfskräfte in einer Nebenstraße warten, um noch einmal unter vier Augen mit dem Schuldner zu reden und an seine Vernunft zu appellieren. Dieser hatte im Vorfeld damit gedroht, daß es Tote geben werde. Indes, Herbert Geil ist uneinsichtig, schreit. Er holt ein Gewehr mit abgesägtem Lauf aus dem Keller und schießt aus nächster Nähe auf sein Opfer. Im Schußwechsel mit der Polizei wird Herbert Geil ebenfalls tödlich getroffen. Der Run auf den krisensicheren Job eines Schuldeneintreibers hält trotz solcher Vorfälle an.

Im allgemeinen ist das normale Leben eines Gerichtsvollziehers gänzlich unspektakulär Kassenpfändung beim Berliner Fußballclub »Union« und Taschenpfändung bei einem möglichen PDS-Kandidaten für die Bundestagswahlen - das sind oft echte Highlights im tristen Leben eines Zwangsvollstreckers. Die neue Generation hat nun gar nichts mehr mit einem Klischee oder mit Namen wie »Onkel Grausam« und »Hautabzieher« zu tun. Es sind moderne junge Leute, die in Jeans gehen und versuchen, mit Gläubigern und Schuldnern auszukommen. Die irgendwie Vermittler, Sozialarbeiter und Seelsorger sind. Die wissen, daß man heutzutage schnell ein Schuldner werden kann und daß gerichtliche Mahnbescheide ohne Nachprüfung, ob der Anspruch auch zu Recht besteht, erlassen werden. Wie dem auch sei, ans Beste, was die Leute haben, wollen sie aber wie ihre älteren Berufskollegen, nämlich ans Geld. Darauf müssen wir uns einrichten.

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