Auf dem Weg zu einem Großalbanien?
Von
David Binder,
67, Reporterund Korrespondent der »New York Times«, spezialisiertauf die Thematik Ost- und Südosteuropa.
Foto: P Hosfros
Im NATO-Hauptquartier wird mit Hochdruck an einem Szenarium für ein militärisches Eingreifen in den Kosovo-Konflikt gearbeitet. Ziel ist es. Mord und Vertreibung zu beenden, doch wer vermag auszuschließen, daß am Ende ein neues Wesen - nennen wir es »Großalbanien« - auf dem Balkan entsteht?
Der anhaltende Konflikt zwischen Serben und Albanern ist heute dadurch geprägt, daß die eineinhalb Millionen Kosovo-Albaner, mögen sie sich nun zu den vermeintlichen Pazifisten eines Ibrahim Rugova oder aber zum rasch wachsenden Fußvolk der extremistischen »Kosovo-Befreiungsarmee« hingezogen fühlen, entscheidende Verbindungen hergestellt haben. Sie reichen weit über Kosovo, ein Gebiet, kleiner als Thüringen, hinaus. Die bewaffneten Kämpfer besitzen eine Nachschubroute, die von den adriatischen Häfen ins Landesinnere bis hinüber zur Nordostgrenze Albaniens führt.
Potentieller Baustein für ein »Großalbanien« könnte auch Westmazedonien sein, wo die meisten der rund 420 000 ethnischen Albaner leben. Keineswegs zu unterschätzen sind zudem die mindestens 70 000 ethnischen Albaner, die das angrenzende Montenegro bewohnen, sowie über 50 000 im südlichen Serbien. Außerdem gibt es zirka 900 000 emigrierte Albaner, die ihre kämpfenden Landsleute mit Dollarspenden in Millionenhöhe unterstützen.
Was die längerfristigen Ziele der Kosovo-Albaner angeht, so hat Rugovas Emissärin im Europarat, Edita Tahira, für Klarheit gesorgt. Im April erklärte sie, nach der Schaffung eines »unabhängigen Kosovo« könnten die dortigen Albaner »eine Union mit Albanien« anvisieren. Frau Tahiri erhob auch Gebietsansprüche auf einen Teil Mazedoniens.
Der Traum von einem Albanien für alle ethnischen Albaner wurde vor 120 Jahren auf einer außerordentlichen Ver-
sammlung von Clan-Häuptlingen in der Kosovo-Stadt Prizren entworfen. Am 1 Juli 1878 gründeten sie die »Liga für die Verteidigung der Rechte der albanischen Nation«. Im Sommer 1912 wurde »Großalbanien« für wenige Wochen fast Wirklichkeit, als die Türken dem größten Teil des Landes, das von Albanern bewohnt war, Autonomie gewährten. Doch dies fand keine Anerkennung bei Serben, Montenegrinern, Bulgaren und Griechen, die ihrerseits nach Land gierten und dieses Projekt deshalb im Ersten Balkankrieg gegen die Türken vereitelten.
Selbst der kleine Staat Albanien war die Schöpfung größerer Mächte, vor allem Österreich-Ungarns und Italiens, die einen Puffer zwischen Serbien und dem Meer haben wollten. Albaniens erster Herrscher war ein Prinz aus Preußen. Im Zweiten Weltkrieg spielte wieder »Großalbanien« eine Rolle, und zwar unter dem faschistischen Italien beziehungsweise Nazi-Deutschland, das die Region besetzte und einen albanischen Marionettenstaat aushielt.
Die Verwirklichung des »Großalbanien«-Traums wird wohl stärker von äu-ßeren Kräften, als von den Albanern selbst abhängen. Der Staat Albanien, ein bettelarmes Land mit gut drei Millionen Menschen, wird von Premierminister Fatos Nano und seiner Sozialistischen Partei regiert, die stark im Süden, aber praktisch ohnmächtig im Landesnorden ist. Dort hat sich sein Erzfeind, der frühere Präsident Berisha, mit den Kosovo-Aufständischen zusammengetan. Je mehr sich der Aufstand ausweitet, desto schlimmer ist es um Nanos auf Europa orientiertes Albanien bestellt.
Weiter gibt es das slawisch beherrschte und auf internationale Unterstützung angewiesene Mazedonien. Ein kleines Kontingent von UN-Truppen soll dafür sorgen, daß das Land, das sich massiven Forderungen nach Zugeständnissen an die albanische Minderheit gegenübersieht, zusammengehalten wird.
Dann haben wir den Kosovo, wo die serbischen Vergeltungsakte Zehntausende motivierten, sich der »Kosovo-Befreiungsarmee« anzuschließen. Das wiederum legt faktisch das Programm des friedlichen Widerstands von Ibrahim Rugova lahm, der sich ebenfalls der Unabhängigkeit verschrieben hat.
Schließlich haben wir die Westmächte unter Führung der USA, die momentan eine »erweiterte Autonomie« für die Kosovo-Albaner befürworten, aber noch nicht soweit gehen, eine unabhängige »Republik Kosovo« zu unterstützen. Was immer die Vereinigten Staaten in dieser Zwickmühle tun, einschließlich militärischer Angriffe auf die Serben oder zwangsweiser Verfügung einer »erweiterten Autonomie« für die Kosovaren, es sollte unter dem Gesichtspunkt berücksichtigt werden, ob die Entscheidung ein »Großalbanien« stärkt und welche neuen Konflikte dies auslösen würde...
Aus dem Amerikanischen: Reiner Oschmann
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