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Spekulation, wohin man surft

Verbrechen Der Kmderpornoskandal von Zandvoort, das Internet und »hilflose« Behörden Von Rene Heilig

  • Lesedauer: 7 Min.

Noch stehen Vervloesem und seine Initiative im Scheinwerferlicht, das eigentlich in kriminelle Schmuddelecken leuchten sollte

Foto: Reuters

Immer wieder verschwinden Kinder scheinbar spurlos. Offenbar auch, weil sie von Kinderschändern mißbraucht werden. Je widerwärtiger die Bilder, um so teurer. Doch ganz erfolglos sind die Fahnder nicht: 1996 flog ein Kinderpornoring in Österreich auf, der Kinder aus der Slowakei »besorgte«; im Mai 1997 rückte die französische Gendarmerie gut präpariert zur landesweiten Razzia aus; kurz darauf wurden deutsche Kollegen unter anderem in Dortmund und Lünen fündig.

Foto: dpa

Seit einer knappen Woche bietet der Fall Schlagzeilen und jede Menge Sendeminuten. Wirkliche Aufklärung über das Übel, das vom holländischen Badeort Zandvoort seinen Ausgang genommen haben soll, erhält man bislang kaum.

Wer am Montag 5 Mark für ein Hamburger Nachrichtenmagazin ausgegeben hat, der erfuhr: Professor Wim Wolters, Experte für Kinder- und Jugendpsychologie aus Utrecht, der als Gutachter schon so manchen perversen Fall begleiten mußte, sei über diesen so entgeistert gewesen, daß sein erprobter Selbstschutz versagte. Solche Bilder seien »absolut neu«. Leser, die 50 Pfennige weniger für ein Münchner Konkurrenzblatt ausgaben, lasen dagegen: Die »Sache in Holland« sei »leider nichts Außergewöhnliches«. Das sagte Adolf Gallwitz, Polizeipsychologe aus Baden-Württemberg.

Tatsache ist, daß das dreckige Kinderpornographie-Geschäft floriert. Kriminologen vergleichen die damit erzielten Erträge inzwischen mit dem Profit ebenfalls weltweit agierender Drogenhändler »Terre des Hommes« nennt 500 Milliarden Mark, 1,5 Milliarden davon sollen jährlich in Deutschland verdient werden. Schätzungen. Stimmen sie nur halbwegs, dann ahnt auch der Laie, daß die internationale Strafverfolgung offenkundig so kompliziert wie ertraglos ist. Genau das behauptet auch die »Werkgroep Morkhoven Nationaal«, jene belgische Bürgerinitiative, die den jüngsten, im benachbarten Holland angesiedelten Kinderpornofall aufgedeckt haben will. Die Männer und Frauen fühlen sich 1 nun ganz offenkundig im Licht der Fernsehscheinwerfer bestätigt - vor allem in ihren Angriffen gegen Polizei und Staatsanwälte, die alles nur vertuschen wollten.

Die Bürgerinitiative wurde 1991 in Morkhoven - das liegt östlich von Antwerpen - gegründet. Zunächst hatte sie neun Mitglieder, die sich gegen allerlei Diskriminierungen Behinderter kümmerten, sich schon bald aber auf die Suche nach vermißten Kindern machten. Das war Jahre, bevor ganz Belgien von der Affäre Dutroux erschüttert wurde. Dessen Bande hatte zumindest vier Kinder und Jugendliche auf grausame Weise mißbraucht und umgebracht.

Die Ermittler der belgischen Polizei arbeiteten 1996 so schlampig, daß der Verdacht, sie hätten »hohe Tiere« aus Justiz und Regierung geschützt, reichlich Nahrung fand. Bis heute ist er nicht entkräftet. Morkhoven wird von Jan Boeykens

geleitet, derzeit aber von einem Marcel Vervloesem dominiert. Er ist 45 Jahre alt, war Büroangestellter und lebt von einer Invalidenrente, die er zum Gutteil in umfangreiche Ermittlungen steckt. Die betreibe er seit 1989. Nur dankt man das Engagement bislang kaum. Den eigentlich zuständigen Behörden erscheint Vervloesem dubios und geltungssüchtig.

Auf den Fall sei er durch die Bekanntschaft mit einem Stricher namens Robby van der Plancken gekommen, sagt der Sprecher von »Morkhoven«. Der habe ihn mit einem Cömputerfachmann Gerrit Ulrich bekanntgemacht. Ulrich, dem das Appartement in Zandvoort gehörte, habe ihm Tips und eine verschlüsselte Diskette gegeben. Weil er aus dem Pornoring aussteigen wolle. Dann sei Ulrich mit von der Plancken nach Italien gefahren und dort ermordet worden. Sagt Vervloesem. Polizisten behaupten, Ulrich habe nicht warten wollen, bis der Krebs sein Werk an ihm getan hat. Ob der in Italien inhaftierte von der Plancken seinem Partner beim endgültigen Abschied geholfen hat, versucht ein dortiger Untersuchungsrichter herauszufinden.

»Privatdetektiv« Vervloesem habe, nachdem er vom Tod seines Informanten erfuhr, Ulrichs Wohnung inspiziert, das Belastungsmaterial gefunden und es der holländischen TV-Nachrichtensendung NOVA angeboten. Als er sich am Montag noch immer weigerte, die in seinem Besitz befindlichen Beweismittel - angeblich 90 000 Fotos, Disketten und Adreßdateien der Kunden sowie allerlei Rechnungsbelege - der Polizei auszuhändigen, wurde er für einige Stunden festgenommen. Nicht zum ersten Mal, wie die Zeitung »Le Soir« herausgefunden hat. Ein von Vervloesem als Pädophile bezichtigter Mann hatte ihn angezeigt. Auch wurde berichtet, Vervloesem sei 1997 wegen Erpressung und eines Sittendelikts verurteilt. Noch laufe die Berufung. Stimmt bei-

des, so behauptet Vervloesem dennoch rechtens, daß niemand in seiner Gruppe vorbestraft ist.

Vielleicht wird irgendwann die wirkliche Geschichte erzählt. Wichtiger indessen ist, daß jenen, die mit Kinderpornographie Profite machen, das Handwerk gelegt wird. Markige Worte, wie sie unsere Wahlkampfakteure ausstoßen, befördern wenig. Abgesehen vom Spott jener, die fachlich etwas bewanderter sind als die Mehrzahl unserer Politiker. Man sagt, einige denken noch immer beim Begriff Internet-Browser an die Wonne morgendlicher Duschen. Möglich, denn wer beispielsweise im Bundestag einen kompetenten Ausschuß für moderne Kommunikationsmittel und damit zur Festlegung von Regeln sucht, wird enttäuscht. So gilt das Internet politisch weiter als Buhmann. Weil in ihm angeblich hemmungslos Kinderpornographie versandt wird. Mehrere Gründe sprechen dagegen: Zunächst ist der Datenfluß, den man zum Verschicken der von Kunden zumeist erwünschten Serien benötigt, erheblich? “Zweitens bereitet das Geldein- ' treiben Schwierigkeiten. Und sei es T nur v

weil Bankkonten oder Kreditkartennummern öffentlich - also auch für Fahnder lesbar - versendet werden müßten. Au-ßerdem setzen Online-Anbieter inzwischen immer mehr Filter und sogenannte Lotsen ein, die verdächtige Regungen im Netz notfalls beenden. American Online, einer der weltgrößten Anbieter, verstopfte nun ein weiteres, bei Kriminellen beliebtes Schlupfloch. AOL kappte Schnupperkunden, die das Netz einen Monat lang kostenfrei nutzen wollen, unter anderem die Möglichkeit der Datenübertragung. Erst wenn die Identität des Nutzers mit einiger Sicherheit feststeht, ist er »voll dabei«.

Das Internet, so weiß Oberstaatsanwalt Klaus Finke aus Hannover, ist ohnehin oft nur Drittverwerter. Die meisten obszönen Bilder sind bereits per Zeitschrift oder Video erhältlich. Finkes niedersächsische Zentralstelle zur Bekämpfung jugendgefährdender Schriften darf mit 1997 über 600 eingeleiteten Verfahren durchaus als kompetent gelten. Tatsache ist jedoch, daß im Internet allerlei Anbahnungsgespräche laufen und per Chat-Room-Geplauder oder Pinboard-Nachrichten jugendliche Opfer rekrutiert werden sollen.

Über eine gehörige Portion Erfahrung bei Internet-Ermittlungen verfügen auch Kripo-Leute im bayerischen Landeskriminalamt und beim Münchner Polizeipräsidium. Ende November vergangenen Jahres fand die »Netzpatrouille« weit über 1000 Bild- und 16 Videodateien auf der Festplatte eines 30jährigen Designers. Er war Mitglied im »Lolita-Club«, der über einen belgischen Provider Kinderpornos tauschte. Interpol durchsuchte anschließend 54 Wohnungen in 19 Staaten. Erfolgreich. Drei Beschuldigte stammen aus Deutschland.

Ab und zu geht auch mal ein Tip »übern Teich« an die US-Kollegen. Dank Münchner Fleißes konnten in den USA zwei Hersteller von Kinderpornos zu je 19 Jahren Haft verurteilt werden. Der

US-Zoll revanchierte sich und führte die Münchner auf die Spur eines 32jährigen, der neben seinem Job als Musiklehrer Kinderpornographie vertrieb. Zudem hatte er sich als minderjährige »Jessica« ins Internet geloggt, um elektronische »Brieffreundschaften« aufzubauen.

Der Kampf gegen Kinderpornographie und die Bemühungen, das Internet einigermaßen sauber zu halten, ist zwar ein weltweites Problem, doch in Deutschland vor allem ineffektive Ländersache. Deshalb auch fordert Hermann Lutz, Chef der Gewerkschaft der Polizei, daß man eine spezielle Dienststelle mit der gesamten Internetfahndung betraut. Herta Däubler-Gmelin, die mögliche Justizministerin in einem SPD-Kabinett, will statt dessen bestimmten Ermittlergruppen bestimmte Delikte zuordnen. Schließlich werden per Internet nicht nur Kinderpornos geordert. Man findet Unmengen Nazipropaganda, die in verschiedenen Staaten unter die Meinungsfreiheit fällt, ebenso wie Mädchen-Nachbestellungen für Bordelle. Zudem müßte einiges zur juristischen Vereinheitlichung der Polizeiarbeit getan werden. Die Münchner Kripo geht beispielsweise auch »undercover« ins Netz. Die Beamten stellen Fallen. Versucht das ein Hamburger Kollege, dürfte er ein Disziplinarverfahren erwarten. In der Hansestadt ist bereits das Benutzen eines Pseudonyms als verdeckte Ermittlung zu werten.

Angeblich weisen zahlreiche in Holland entdeckte Adressen nach Berlin. Wo - wie jederman weiß - traditionell viel für die Sicherheit der Bürger und die Einhaltung der Gesetze getan wird. Innensenator Schönbohm schickt seine Leute sogar nächtens aus, um Bürgerkriegsflüchtlinge in Abschiebegefängnisse zu stecken und läßt jede rotbeflaggte Rentnerdemo von grünen Hundertschaften bewachen. Da erstaunt es schon, was die Berliner Polizeigewerkschaft als einen Punkt von vielen beklagt: Die gesamte Berliner Truppe verfügt nur über drei Internetanschlüsse.

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