Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

  • Politik
  • Wie der australische Philosoph Peter Singer mit seiner »kopemikanischen Revolution« Behinderte verhindern will

Als Geisterfahrer auf der Straße der Menschenrechte

  • Ingolf Bossenz
  • Lesedauer: 7 Min.

vor dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg steht eine Reihe weißer Betonsäulen - die 1993 geschaffene »Straße der Menschenrechte«. Auf jeder Säule steht in deutsch und jeweils einer anderen Sprache ein Artikel der 1948 von der UNO angenommenen Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Säule Nummer drei: »Jeder Mensch hat das Recht auf Leben...«

Eine halbe Stunde Autofahrt von Nürnberg entfernt liegt Erlangen. In der mittelfränkischen Universitätsstadt stellte jetzt ein Mann sein neuestes Buch vor, der seit Jahren dafür eintritt, das Menschenrecht auf Leben einzuschränken: der australische Philosoph Peter Singer.

»Leben und Tod« - so der Titel - ist Sprengstoff zwischen Buchdeckeln. Will Singer doch nichts geringeres, als die traditionelle Ethik in einer Weise umzukrempeln, wie es Kopernikus mit dem geozentrischen Weltbild tat. Wie in seiner 1979 erschienenen »Practical Ethics« (dt. »Praktische Ethik«) steht der Begriff der »Person« im Zentrum der Argumentation. Vom griechischen Stoiker Epiktet (341-270 v Chr.) in die Philosophie eingeführt für die Rolle, die man im Leben zu spielen hat, wird er in den aktuellen bioethischen Diskussionen verwendet, um ein Wesen zu bezeichnen, das bestimmte charakteristische Merkmale wie Selbstbewußtsein und Autonomie besitzt. Nicht Menschen schlechthin, sondern ausschließlich Personen sollten Singer zufolge das Recht auf Leben haben.

In der Konsequenz heißt das, jeder Mensch, der das Bewußtsein seiner selbst nicht erlangt oder verloren hat, darf straflos getötet werden: Neugeborene, Patienten im Dauerkoma oder Menschen, deren Hirnfunktionen hochgradig irreparabel geschädigt sind.

Ausgangspunkt der Überlegungen des Bioethikers aus Melbourne sind die Möglichkeiten der heutigen Medizin, Menschen mit Hilfe modernster Technik am Leben zu erhalten, die noch vor nicht allzu langer Zeit keine Chance gehabt hätten. Das betrifft vor allem Neugeborene mit schwersten Behinderungen, die früher kurz nach der Geburt gestorben wären. Singer schildert authentische Fälle: Säuglinge, die aufgrund schwerster Hirnschäden nie das Bewußtsein erlangen werden; Neugeborene, die körperlich so schwer geschädigt sind, daß ihnen ein lebenslanges Martyrium bevorsteht. In jedem einzelnen Fall sehen sich die Ärzte - bei (wünschenswerter) Einbeziehung der Eltern auch diese - vor äußerst komplizierte ethische Entscheidungen gestellt, die oftmals von der Überzeugung geprägt werden, daß es humaner wäre, manche dieser Kinder sterben zu lassen. Nichtbehandlung, Einstellung der Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr führen

Foto: Wodicka

dann in der Regel zum baldigen Tod. Das Dilemma solcher Entscheidungssituationen zeigte kürzlich eine ZDF-Dokumentation, die sich auf eine Untersuchung in über 100 deutschen Kliniken stützte. Danach wird bei gleicher Fehlbildung in manchen Geburtszentren immer, in anderen hingegen nie behandelt.

Der Hamburger Rechtsphilosoph Reinhard Merkel schätzt, daß in Deutschland jährlich rund 2000 schwerstbehinderte Babys »liegengelassen« werden, also lediglich pflegerisch versorgt werden und aufgrund ihrer Fehlbildungen sterben. Der saarländische Chirurg Mathias Jung verweist hingegen darauf, daß pro Jahr nur etwa 1000 Neugeborene in Deutschland einen größeren und nicht behebbaren Defekt haben, der ihnen das ganze Leben hindurch starke Einschränkungen auferlegt. Nur »in deutlich weniger als 100 Fällen« seien diese Einschränkungen so schwerwiegend, daß diesen so hochgradig fehlgebildeten Kindern der baldige

Tod als Erlösung von Siechtum und Qual zu wünschen sei. Noch kleiner, so Jung, sei die Zahl der Kinder, bei denen von Geburt an jegliche bewußte personale Existenz durch schwerste Hirnschäden ausgeschlossen ist.

Wie groß oder klein die Gesamtzahlen auch sind - die Tragik liegt in jedem Einzelfall begründet, der die Frage aufwirft, »wie weit wir gehen dürfen mit der Zumutung des Daseins an das von uns gezeugte Kind«, wie es der deutsche Philosoph Hans Jonas (1903-1993) ausdrückte, der übrigens ein entschiedener Gegner Singers war. Aber, so Jonas weiter, es gebe »Grenzen für das, wozu wir ein solches Wesen verurteilen dürfen, und darum könnte das Sterbenlassen wirklich ein sittliches Gebot sein«.

Daß von der Definierung solcher Grenzen bislang sowohl Philosophen und Juristen wie Mediziner und Biologen tunlichst die Finger gelassen haben, ist nur allzu verständlich. Auch Singer will das

nicht. Entscheidungen über die Zukunft Schwerstbehinderter Neugeborener sollten ihm zufolge von den Eltern getroffen werden - in Beratung mit den behandelnden Ärzten. Dabei allerdings soll nicht nur das prognostizierte mögliche Leiden des Kindes berücksichtigt werden, sondern auch Interesse und Willen der Eltern, ein solches Kind aufzuziehen. Das

' heißt, ein Kind mit Down-Syndrom (Singer schildert ein solches Beispiel) müßte bei Ablehnung durch die Eltern sterben, obwohl diese Behinderung in der Regel durchaus nicht mit einem subjektiven lebenslangen Leiden verbunden ist. »Viele haben ein heiteres Temperament und können warm und liebevoll sein«, schreibt auch Singer Doch eines von seinen »neuen Geboten« lautet eben: »Setze nur Kinder in die Welt, die du wirklich willst.«

Um diese Maxime über die in den Abtreibungsgesetzen unterschiedlich geregelte Möglichkeit zur Tötung des Fötus im Mutterleib hinaus juristisch abzusichern, hat sich Singer offenbar unwiderruflich in die Forderung verrannt, Neugeborenen kein Lebensrecht zuzuerkennen, beziehungsweise dies erst nach rund einem Monat zu tun. Innerhalb dieses willkürlichen Zeitraums könnten Kinder nicht nur »liegengelassen«, sondern auch (aktiv) getötet werden: solche mit schwersten Leiden, deren Qualen dadurch verkürzt würden, ebenso wie solche mit weniger schwerwiegenden Defekten, die aber von ihren Eltern abgelehnt werden. Singer hat für ein derartiges Vorgehen historische Beispiele parat, um auch nach der Geburt »zu einem neuen Leben mit schlechten Aussichten offen nein sagen« zu können: »Kung-Frauen, die ein Kind gebären, wenn das ältere Kind noch nicht laufen kann, finden es wahrscheinlich

% »pich.t.leicht, in^de^JBjlS.clx^q.gehen .und das neugeborene Kind;zu ersticken, doch .äaßsie das tun, hindert.sie nicht daran, für die Kinder, die sie aufziehen, eine

Solche Kosten-Nutzen-Philosophie käme einer Gesundheitspolitik, die den Patienten vor allem als Kosten faktor sieht, zweifellos entgegen.

le auf Distanz zu ihm bringen, die die von ihm aufgeworfenen Fragen durchaus als wichtig und diskutierenswert betrachten. Doch die kardinale Antwort, die Singer seit Jahren bereit hält und die jetzt gar als Grundlage für einen Gebote-Katalog herhalten muß, ist dieselbe geblieben: Es gibt kein Menschenrecht auf Leben, nur ein Personenrecht. Daß er auch hochentwickelten Tieren wie Menschenaffen Personenstatus zuerkennt, sorgt da nur für zusätzliche Irritationen.

Würden Singers Postulate Realität, müßten die Vereinten Nationen zunächst einmal Artikel drei der Menschenrechtserklärung streichen. Es würde dann drei Gruppen von Menschen geben: Die leben sollen, die nicht leben sollen und die über die ersten beiden Gruppen entscheiden. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (»Jeder hat das Recht auf Leben ...«) müßte ebenso geändert werden wie die entsprechenden Strafrechtsbestimmungen. Die Forderung nach Freiheit der individuellen Entscheidung in allen Ehren - doch soll diese auch für Menschen gelten, die ihr Neugeborenes im Müllsack entsorgen?

Singer meinte bei der Buchpräsentation in Erlangen, er glaube, daß es auch für die rechtlichen Fragen und deren Umfeld »eine Lösung« geben wird. Wie die aussehen soll, sagte er nicht. Ebensowenig, wie denn eine Verfassung, in der das Recht auf Leben eingeschränkt ist, vor Mißbrauch geschützt werden kann, falls ein Regime die Vernichtung »lebensunwerten Lebens« zur Staatspolitik erklären sollte.

Die Brisanz dieser Problematik wird besonders an Stellen deutlich, wo es Singer weniger um das individuelle Interesse der Betroffenen geht. Beispiel: »Gleichzeitig kann ein öffentliches Gesundheitswesen nicht die Begrenztheit der medizinischen Ressourcen ignorieren und muß auch die Bedürfnisse anderer berücksichtigen, deren Leben durch eine Organübertragung gerettet werden könnte.« Solche Kosten-Nutzen-Philosophie käme einer Gesundheitspolitik, die den Patienten vor allem als Kostenfaktor sieht, zweifellos entgegen.

Der Vorwurf, Singer würde Behinderten generell das Lebensrecht bestreiten, ist gewiß falsch. Im Gegenteil spricht er sich für deren größtmögliche Integration in die Gesellschaft aus. Trotzdem ist es nur allzu verständlich, daß sich viele Behinderte von seinen Ansichten getroffen und auch bedroht fühlen. Denn Ideen wie die der selektiven Gewährung von Lebensrechten, deren Ausgangspunkt der Umgang mit behinderten Säuglingen ist, können schnell dem akademischen Elfenbeinturm entweichen und einen gefährlichen Populismus nähren, den der Gelehrte dann sicher nicht gewollt hat.

In den 70er und 80er Jahren sorgte Peter Singer mit seinem Buch »Animal Liberation« (dt. Die Befreiung der Tiere) für eine Erneuerung der Tierschutzbewegung. Daß auch Tieren aufgrund ihrer Erlebnis- und Leidensfähigkeit Rechte zuzugestehen sind, war angesichts von Massentierhaltung und exzessiven Versuchstierpraktiken eine revolutionäre Idee, ohne die seither erreichte Fortschritte im Diskurs zum Mensch-Tier-Verhältnis undenkbar sind.

Die »kopernikanische Revolution« allerdings, wie sie Singer jetzt in der Ethik anstrebt, könnte zur sozialpolitischen Katastrophe geraten.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!