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Lebenskünstler

  • Lesedauer: 7 Min.

26. September 1915: E. Field Horine in Louisville (USA) geboren.

1935: Psychologie- und Germanistik-Studium in Heidelberg und Bonn.

1937: Simultandolmetscher in Berlin für Rundfunkübertragungen von Nazi-Reden für die National Broadcastmg Company. Abteilungsleiter für deutschsprachige, nach Europa.ausgestrahlte Nachrichten beim Columbia Broadcastmg System.

Mai 1945: Als Zivilist im Rang eines Oberstleutnants Dienst für US-Militärregierung in Bayern. Verantwortlich für »Radio München« (Bayerischer Rundfunk). Informations-Kontrolloffizier beim Nürnberger Prozeß.

März 1947: Aus Protest gegen halbherzige Entnazifizierung Rücktritt aus Militärregierung.

Korrespondent des Londoner »Daily Express« und Verkäufer der »Encyclopaedia Britannica«

März 1948 bis 1962: Arbeit für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) der UNO, u.a. in Genf, Indien, Afghanistan, Burma, Ceylon, Indonesien und Thailand. Ab 1957 Zusatzstudium für Gesundheitspädagogik Yale University und Einsatz als Fachberater in Haiti, Kuba, Mfixikn.

1962: Übersiedlung mit Frau und Kindern nach Rom zur Welternährungsorganisation (FAO). Verantwortlich für Gesundheitspädagogik mit Aufenthalten in Ländern Ost-, Zentral-und Westafrikas.

1967: Weiterbildung zum Psychotherapeuten am C.G.Jung-lnstitut in Zürich. Privatpraxis. Engagement in Friedens-und Ökologiebewegung. Vorlesungen an Ums westeuropäischei Länder.

Seit Ende 1987: Oldenburger, Gesangsuntei rieht; 1996 Gründungsmitglied der »Weltbürgerveremigung e.V« Gastgeber für Flüchtlinqsfamilie aus einem islamischen Land.

? Wie empfinden Sie im Rückblick die Entwicklung Deutschlands, wie insbesondere die Entwicklung seit der Vereinigung im Herbst 1990?

Ich finde es traurig, daß die Begeiste-.rung, mit-der die Ostdeutschen sich auf eigene Faust aus einem sehr diktatorisch gewordenen Staat befreit hatten, dahin ist. Aber dies hat natürlich mit der Art der Vereinigung zu tun, die eher eine Vereinnahmung gewesen zu sein scheint. Irgendwie habe ich den Verdacht, das Ganze ähnelt dem, was nach dem Bürgerkrieg in meiner Heimat geschehen ist, als Menschen aus den Nordstaaten in den Süden schwärmten und alles aufkauften, was sie raffen konnten.

Zum ersten Teil: Ich war 1971 nach langer Abwesenheit nicht zuletzt wegen Gustav Heinemann nach Westdeutschland gekommen, den ich als Bundespräsidenten sehr verehrte. Ich teilte seine Auffassung, daß es in Deutschland nicht wieder möglich sein sollte, Armee und Streitkräfte aufzubauen.

Heinemann war ein entschiedener, aber im Endeffekt erfolgloser Gegner der deutschen Wiederaufrüstung. Ich hatte damals die Illusion, daß Deutschland vorbildlich werden könnte für die Welt, wenn es nicht wieder aufgerüstet hätte.

? Stört es Sie, wenn man Sie als einen Romantiker und Träumer bezeichnet?

Was gäbe es in der Welt für Fortschritte, wenn es keine Träumer und Idealisten gegeben hätte! In den USA bestünde heute noch Sklaverei! Formell ist sie abgeschafft worden, weil viele Menschen, die als Spinner belächelt und ausgeschrien wurden, für die Abschaffung der Sklaverei eingetreten waren. Ich bin Idealist, aber zugleich Realist. Die Änderungen, die wir benötigen, brauchen ihre Zeit. Gut Ding will wirklich Weile haben. Auch die Sache mit dem Weltbürgertum. Es gibt eine allmähliche Veränderung im kollektiven Unbewußten des Menschen in Richtung Solidarisierung, und das ist einer der Programmpunkte bei der PDS, die ich schätze.

? Die Übersetzung des Titels Ihrer geplanten Lebenserinnerungen lautet »Auflehnung und Treue«. Wieso diese beiden Pole?

Weil sie sich wie ein roter Faden durch mein Leben ziehen. Ich fühlte mich immer einer freiheitlichen Ordnung, der Gleichberechtigung und den Menschen verpflichtet. In dem Sinne bin ich Sohn der Aufklärung. Ich stehe treu zur US-Verfassung, anders zum Beispiel als die Verantwortlichen der McCarthy-Inquisition im Kalten Krieg. Soweit der loyale Teil in mir.

Auf der anderen Seite kann ich nicht anders als mich aufzulehnen, wo ich Unrecht oder Ungleichheit zu erkennen glaube. Mit zwölf Jahren habe ich gegen die tyrannische Art meines Vaters gegenüber unserer Mutter und den anderen

Geschwistern in der Familie aufbegehrt. Ich bin vom Tisch aufgestanden und habe gesagt, wenn du mit unserer Mutter so redest, kann ich nicht an einem Tisch mit dir sitzen. Dieses Patriarchalische war gegen mein Prinzip. Ich bin im gewissen Sinn Feminist. Frauen sollten auch, wenn sie echte Frauen sind - und nicht wie Indira Gandhi oder Margaret Thatcher - stärker in der Politik vertreten sein. Sie haben bessere Fähigkeiten zum Einfühlen, zum Mitfühlen und ein größeres soziales Gewissen als Männer Im gro-ßen und ganzen jedenfalls.

? Warum sind Sie im März 1947 aus der US-Militärregierung ausgeschieden?

Zunächst hatten unsere Direktiven gelautet: Gleichbehandlung aller religiösen Richtungen, gleiche Chancen für Vertreter und Vertreterinnen aller politischen Richtungen. Das war unsere Begründung für die Zusammenarbeit mit Erz-Katholiken und Erz-Kommunisten. Beide Kategorien hatten wir zum Beispiel in Radio München, dem Vorläufer des Bayerischen Rundfunks, angestellt, um diesen Direktiven zu entsprechen.

Dann aber, im September 1946, gab es eine Rede von James Byrnes, dem damaligen Außenminister, in Stuttgart, die uns aufhorchen ließ: Um die Westdeutschen solle geworben werden, als Alliierte der USA vor allem in einem Endkampf gegen die damals schon fast zerstörte Sowjetunion.

Zum anderen hatten wir erlebt, daß Nazibonzen in Bayern und auch in anderen Teilen Deutschlands wieder zu Amt und Würden gelangten. Das entsprach nicht unserer Auffassung, und das war auch nicht Sinn und Ziel des Kriegs gegen Hitler und den Hitlerfaschismus.

? Sie waren eine Gruppe?

Ich spreche vor allem von zwei anderen, obwohl die Mehrheit meiner Kollegen wie wir dachte. Viele von uns wußten, daß hohe Nazis ausgeschleust und eingeschleust wurden - eingeschleust in die Bundesregierung und ausgeschleust nach Südamerika.

? Wo, Herr Horine, lag der Einstieg zu Ihren exzellenten Deutschkenntnissen?

Mit zwölf habe ich Deutsch als Wahlfach belegt, neben Latein, Griechisch und Französisch. Als ich nach Deutschland kam,.sprach ich.schon mehr oder weniger-gut. Eines Tages lief ich durch die Altstadt von Heidelberg und sah an einer Hauswand die Tafel: »Frau von Campenhausen-Bassermann - Deutschunterricht«. Ich fragte mich: Deutschunterricht? Die meisten Deutschen können doch Deutsch? Ich klingelte. Eine feine ältere Dame mit hohem, weißen Stehkragen, in einem gebügelten schwarzen Kleid, kam an die Tür Ich bin Frau von Campenhausen-Bassermann, verwandt mit dem Schauspieler Bassermann, was wünschen Sie? I would like to speak German like you - Ich möchte gern Deutsch so sprechen können wie Sie, entgegnete ich. Ja, wir können es versuchen, antwortete sie. Ich erfuhr, daß sie Deutsch für Theologiestudenten gab, die von der Kanzel herab nicht in dem Dialekt predigen wollten, den sie als Kind gelernt hatten, sondern in Bühnendeutsch, hannoveranisch.

Nach sechs Wochen Übung mit Resonanzböden aus Holz, anatomischen Modellen, Erklärungen, wie man die Zunge heben muß, wenn man ein deutsches »L« aussprechen will anstatt ein amerikanisches »Ö11« zu sagen und so weiter, konnte ich Deutsch so wie heute sprechen.

? War es Zufall, daß Sie 1935 Ihr Studium grad in Deutschland begannen?

Das war eine plötzliche Entscheidung, denn Deutschland vergab sehr großzügig Stipendien. Wie ich erst später mitbekam, zu rein propagandistischen Zwecken.

Meine Vorfahren väterlicherseits stammten zum Teil aus Deutschland. Der früheste, von dem wir Kenntnis haben, wurde 1530 in Ostdeutschland geboren. Sein Sohn war Bürgermeister von Leipzig, wie wir vor kurzem aus dem Internet erfuhren. Auch auf mütterlicher Seite hatte ich deutsche Vorfahren. Mein Urgroßvater mütterlicherseits war einer der Kämpfer in der Revolution von 1848.

? Gibt es andere Herkunftsländer in Ihrer Familie?

Meine Großmutter väterlicherseits war französischer Abstammung. Mütterlicherseits kamen meine Vorfahren zum Teil aus England. Eine bunte Mischung, wie bei vielen meiner Landsleute.

? Welche Entwicklungen in diesem Jahrhundert gehören für Sie zu den Mut machenden?

Eine sich langsam abzeichnende Änderung in der Verantwortung der Menschen für die Menschen. Das geht nur ganz allmählich und kommt vielleicht zu spät, als daß der Homo - selbsternannter - sapiens, überleben könnte, aber Mut macht mir das schon.

Interview: Reiner Oschmann

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