Die Werksfahnen haben sie auf Halbmast gesetzt. Und ein paar Spruchbänder aufgehängt: Betrieb zu verkaufen. Motivierte Belegschaft vorhanden.Oder: Heuschrecken fressen die Molkerei Bützow!
Irgendwie müssen sie SPD-Chef Franz Müntefering, der im inzwischen verloren gegangenen NRW-Wahlkampf ein bisschen auf den Klassenkampfbusch klopfte, missverstanden haben: Mit Heuschrecken meinte Müntefering ja ausländische Investoren, die deutsche Betriebe kaufen, um sie dann als Konkurrenten zu zerschlagen. Sie aber meinen keine ausländischen Investoren, sondern Landsleute. Inländisches Kapital. Kapital. Aber egal. Jedes kämpferische Wort ist ihnen willkommen. In einem gewissen Maße.
Lange haben sie sich nicht zur Wehr gesetzt. Keine Streiks, keine spektakulären Aktionen. Warum auch? Sie sagen, man wiegte sie in Sicherheit, in dem Glauben, der Betrieb sei schon so gut wie verkauft, alles ginge weiter wie gehabt, kurz, alles sei in Butter. »Man hat uns ruhig gestellt, verarscht«, schimpfen sie. Jetzt, da alle Messen gesungen sind und sie es realisiert haben, haben sie die Spruchbänder aufgehängt. Mehr Protest macht keinen Sinn mehr. Aber den Mund verbieten lassen wollen sie sich nicht, auch wenn die Nordmilch das Werk dann vielleicht sofort, und nicht erst im Dezember schließt. Thomas Eggert, Frank-Volker Schubert, Elvira Eickenfeldt und Dietmar Seyer wollen kämpfen. Bis zum Schluss. Als gewählte Betriebsräte sind sie das den Kollegen schließlich schuldig. Doch ein schweißtreibendes, krank machendes Zögern lähmt den Kampfgeist: Je länger die Molkerei arbeitet, desto länger hat sie eine Chance, dass sich doch noch ein neuer Käufer findet. Die Chance ist verschwindend klein. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
* Der kleine Konferenzraum, in dem uns die Betriebsräte empfangen, ist wie nagelneu. Eingerichtet mit Vitrinen, einem großen polierten Tisch, mit dezent gemusterten Stühlen. Alles in der Molkerei Bützow ist wie nagelneu. Auch die Produktionsanlagen, die weiß gekleidete Menschen bedienen. 1990 wurde der ehemals volkseigene Betrieb privatisiert und mit insgesamt 26 Millionen, davon 8 Millionen Fördermitteln, modernisiert und auf den neuesten technischen Standard gebracht. 1993 erhielt er als erste Molkerei Mecklenburg-Vorpommerns die EU-Zulassung. »Heute, da die Kredite abgezahlt und die Investitionen abgeschrieben sind«, sagt Thomas Eggert, »könnten wir richtig verdienen!« Die Molkerei Bützow schrieb schwarze Zahlen. Deshalb versteht ja hier auch niemand, weshalb Bützow geschlossen werden soll. Ausgerechnet Bützow!
Die Geschichte, die erzählt werden muss, ist lang. Eine Geschichte von Fusionen oder, anders gesagt, der Konzentration von Kapital. Die Bützower Betriebsräte haben die Eckdaten aufgelistet, sind sie wohl hundert Mal durchgegangen, um Argumente herauszufiltern, mit denen sie ihren Betrieb retten können. Das Problem: Es ist nicht ihrBetrieb. Allmählich begreifen sie es.
1990 wurde die Molkerei von den Firmen Botterbloom, Huber Sahne und Egenberger gekauft. Die Investitionen wurden getätigt. Doch dann fusionierte Botterbloom mit der Milchzentrale Oldenburg, die sich 1999 ihrerseits mit der Nordmilch (Zeven), Hansano (Isernhagen) und Bremerland (Stuhr) zur Nordmilch e.G., auch »große Nordmilch« genannt, zusammenschloss. Dadurch erwarb der neu entstandene Milchriese auch ein Drittel der Anteile an Bützow und entsprechende Stimmrechte. Mit diesen Stimmrechten, so glaubt man in Bützow, habe er zwei Jahre lang Entscheidungen blockiert, so dass die anderen Miteigner im Januar 2002 ihre Anteile entnervt aufgaben. Seitdem gehört Bützow der »großen Nordmilch« ganz. Von diesem Zeitpunkt an, so jedenfalls mutmaßt man in Bützow, war die Stilllegung beschlossene Sache. Beweisen können sie es nicht, wie auch? Doch sie sehen es so: Das Werk, das bis zu diesem Zeitpunkt Butter vor allem für Aldi und Milchpulver für den Export produzierte, war ein Konkurrent. Ein ernst zu nehmender, denn er hatte keine Probleme. Probleme hatte dagegen die Nordmilch. Die bei Aldi nach der Fusion erst einmal Stärke demonstrierte und höhere Preise forderte. Woraufhin der Discounter, der seinen Lieferanten bekanntlich immer niedrigere Preise abpresst, die »große Nordmilch« kurzerhand rausschmiss. »Wir konnten mit den niedrigen Preisen bei Aldi leben, die Nordmilch konnte es nicht«, sagt Eggert. »So dass dann auch wir Probleme bekamen.«
Bützow produzierte fortan keine Butter mehr für die Regale des Handels, sondern nur noch Block- und Bäckerbutter sowie Milchpulver - überwiegend für den Export. Doch da der europäische Milchmarkt an rund 20 Prozent Überproduktion krankt, will die EU den Export künftig nicht mehr fördern, so dass die Preise für so genannte Interventionsprodukte wie Butter und Milchpulver nicht mehr so lukrativ sein werden. Stattdessen boomt der Käsemarkt. Käse produziert das Werk in Dargun, das von 1993 bis 2001 mehrfach mit Fördermitteln ausgebaut wurde und an dem die Nordmilch 12 Prozent Anteile hält. Zu 100 Prozent - wie das Werk in Bützow - gehört ihr die Molkerei in Waren-Müritz, die sie 2001 zur Käserei ausbaute - ebenfalls mit Fördermitteln. Diese wie auch die Fördermittel für Dargun bekam sie freilich nur unter der Bedingung, dass der Rohstoff - also die Milch - aus dem Bereich der Nordmilch kommt. Da trotz europaweiter Überproduktion nur eine begrenzte Zahl von Milchbauern zur Nordmilch gehören und diese demzufolge nur über eine bestimmte Milchmenge in Mecklenburg-Vorpommern verfügt, hat sie die Verarbeitungskapazität von Waren-Müritz so geplant, dass sie die Bützower Milch mit aufnehmen kann. So fahren denn auch seit dem 1. Januar dieses Jahres die Milchtanker an Bützow vorbei. Nach Waren und Dargun. Betriebsratsvorsitzender Schubert: »Dort kann man noch schwärzere Zahlen schreiben als schwarze. Und ein Konkurrent ist ausgeschaltet.«
* »Noch schwärzere Zahlen als schwarze« zu schreiben, den Profit zu maximieren - was sonst wäre Aufgabe von Kapital, bei Strafe seines Untergangs? Die Nordmilch e.G. gehört den in ihr vereinigten 12000 Milchbauern, die Kapital eingezahlt haben - 40 Euro je 1000 Kilo Milch. Ihre Rendite ist der Preis, der ihnen für ihre Milch gezahlt wird. Der ist deutschlandweit bescheiden, doch die Nordmilch zahlt noch bescheidener als die Konkurrenz. Damit ihr die Milchbauern nicht weglaufen, soll sich das nun ändern. Stephan Tomat, früher Geschäftsführer von Nestlé, seit kurzem Vorstandsvorsitzender der Nordmilch, hat den Umbau in Angriff genommen. Als kühl kalkulierender, also fähiger Manager will Tomat zehn oder elf Werke vor allem im deutschen Norden schließen; Bützow ist nur eines von ihnen. Die Schließung der Werke sei notwendig, damit die Nordmilch sich auf das »Kerngeschäft«, die Käseproduktion konzentrieren könne.
Warum hat die Nordmilch dann 1999 erst fusioniert, wenn sie jetzt so viele Werke schließt? Konzern-Pressesprecher Hermann Cordes: »Deshalb fusioniert man ja - um ein neu entstandenes Unternehmen für die Märkte der Zukunft neu aufzustellen.« Nicht, um Konkurrenten auszuschalten? Cordes formuliert es so: »Wenn alles auf der Welt so bliebe, wie es gerade ist, wäre es für uns ja schön. Aber nichts bleibt, wie es ist. 1999 haben sich vier Unternehmen zusammengetan, weil sie sich auf dem dramatisch veränderten Markt, der von wahnsinnigen Preiskämpfen geprägt ist, allein nicht hätten behaupten können. Nur zusammen haben sie eine Chance, die norddeutsche Milch europaweit so zu verarbeiten und zu vermarkten, dass sie überleben können. Also haben wir im Herbst 2003 geschaut: Was können wir aus der Milch machen, um sie zu vermarkten, wo ist die modernste Produktion? Um Produktion zu optimieren, muss man sie manchmal auch verlagern. Das ist für den Einzelnen hart, unglaublich hart, aber wir sind nicht die Bösen, als die uns die Bützower hinstellen. Wir setzen keinen auf die Straße.«
Tatsächlich - das gehört zur Wahrheit - haben die Bützower Betriebsräte gemeinsam mit dem Gesamtbetriebsrat einen Sozialplan aushandeln können, wonach diejenigen ihrer Kollegen, die schon 58 sind, künftig gar nicht so schlecht gestellt sein werden - gehen sie jetzt in den Ruhestand, zahlt ihnen die Nordmilch zehn Jahre lang das, was sie an Rente einbüßen. Aber dummerweise sind viele Kollegen, auch Eggert, Schubert, Seyer und Eickenfeldt, jünger. Sicher, die Nordmilch habe allen Bützower Mitarbeitern einen Job in einem ihrer anderen Werke in Aussicht gestellt. Aber wie soll das gehen? Eggert schüttelt den Kopf: »Meine Kinder kämen nicht mit. Außerdem, wer hier ein Haus hat, das er dann verkaufen müsste, bekäme dafür so gut wie nichts.« Die Betriebsräte sehen verloren aus an dem großen polierten Tisch. Wie viele Monate trennen sie von Hartz IV?
* Einer der Milchbauern, die für die Nordmilch arbeiten, heißt Klaus Griepentrog. Anders als seine westdeutschen Kollegen hat er - wie auch die meisten anderen Milchbauern im Osten - keine Anteile am Nordmilch-Konzern, sondern ist lediglich Milchlieferant. Aber der Milchpreis ist natürlich auch für ihn interessant.
In seinen Ställen stehen 1250 Kühe, es sollen noch mehr werden. 45 Menschen beschäftigt er fest, außerdem fünf Lehrlinge sowie so genannte gering Verdienende. Als Chef des Bützower Bauernverbandes weiß Griepentrog, dass die Bauern der Region sich hinter die Molkerei gestellt haben. Schon, weil sie der »letzte große mit Gewinn arbeitende Betrieb in der ganzen Gegend« ist. Längst stillgelegt: das Möbel-, Säge- und Sauerstoffwerk. Aber natürlich, so Griepentrog, gebe es auch noch einen anderen Grund für die Solidarität der Bauern: Seit zehn Jahren habe die Molkerei Bützow den zweithöchsten Milchpreis in ganz Mecklenburg-Vorpommern gezahlt, auch heute noch, nämlich 25,5 Cent pro Kilo Milch plus einen Cent Qualitätsbonus. Da sie als Vertragspartner ihre Verpflichtungen immer »hundertprozentig eingehalten hat«, hätten die Bauern auch nachdem feststand, dass die Molkerei geschlossen wird, keinen Grund gesehen, den Vertrag mit ihr zu lösen - wären sie ja auch schön dumm gewesen. Jetzt, da die Bützower Milch nach Waren-Müritz gebracht wird, zahle ihnen die Nordmilch nach wie vor den mit Bützow vereinbarten Preis, so dass es nun ebenfalls keinen Grund für die Bauern gebe, aus dem Vertrag auszusteigen. »Und wenn die Nordmilch es an die Spitze des Milchpreises schafft, wie sie es vorhat«, sagt Griepentrog, »werden wir bei ihr bleiben. Ich kenne keinen, nicht einen Bauern, der aus Solidarität zu Bützow auf zwei Cent verzichten könnte - ich auch nicht.« Griepentrog steht zwischen Baum und Borke. Er stöhnt: »Wäre die Umstruktuierung der Nordmilch nicht gefördert worden und hätten andere Bewerber eine Chance bekommen, hätten wir unsere Milch weiter nach Bützow gebracht. Aber so hat die Nordmilch die Entwicklung in der Hand.«
* Die Bützower Betriebsräte sind wütend. Statt »ihrer« Milch wird ihnen nur noch Molkekonzentrat geliefert, das sie zu Molkepulver verarbeiten dürfen. Noch. Mehrere Käufer haben ans Werktor geklopft, darunter Gelato und Egenberger, aber was sollten die mit einer Molkerei ohne Milch? Außerdem, da sind sie sich sicher, will die Nordmilch nicht an eine Firma der »weißen Strecke« verkaufen, denn dann hätte sie ja wieder einen Konkurrenten. »Was sollen wir denn sonst herstellen?«, fragt Elvira Eickenfeldt empört, »Kaffee?«
Wütend sind sie auch über die Förderpolitik von Landwirtschaftsminister Till Backhaus (SPD). Hätte der nicht all die anderen Werke und dazu noch den Neubau einer Molkerei in Rostock gefördert, dann gäbe es jetzt in der Milchverarbeitung des Landes keine Überkapazität. Sagen sie. Backhaus sagt: »Meine Amtsperiode begann erst, als mein Vorgänger die Förderentscheidungen schon getroffen hatte.« Was ihn betrifft, so versuche er nach wie vor, für Bützow eine Lösung zu finden. Verheißung schwingt in seinen Worten mit: »Bützow ist ja nicht nur ein Standort der Milchverarbeitung, sondern ein Lebensmittelstandort.« Also doch noch alles in Butter? Die gelernte Köchin Elvira Eickenfeldt glaubt nicht daran. Und es ist ihr auch egal, wer welche Entscheidungen fällte: »Zahlen wir Steuern für Fördermittel, damit die dann im mecklenburger Sand versickern?«
Vor zwei Jahrzehnten noch haben sich Köchinnen und Schlosser über volkswirtschaftliche Zusammenhänge keine Gedanken gemacht. Heute tun sie es; sie sind dazu gezwungen. Aber während sie versuchen, die Fakten im Nachhinein wie ein Puzzle zusammenzusetzen, haben die vorausblickenden Strategen die Weichen längst gestellt.
Dass die Bützower Betriebsräte trotzdem kämpfen, ehrt sie. Es ist das erste Mal, dass sie kämpfen müssen. Vielleicht haben sie ein bisschen Kampferfahrung aus der Zeit, als auf anderen Protestbändern stand: Wir sind das Volk. Aber das ist zu wenig. Eggert winkt ab: »Das Volk interessiert heute keinen mehr.«