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  • Politik
  • Gedenken an den chilenischen Sänger Victor Jara in Dortmund

Laß das Leben fliegen

  • Lesedauer: 6 Min.

Von Lutz Kirchenwitz

Am 11. September 1973 putschte in Chile das Militär gegen die sozialistische Regierung Allende, um das Land »vor dem Kommunismus zu retten«. Es begann eine Hetzjagd auf Anhänger der Unidad Populär. Zu den Opfern gehörte der Volkssänger Victor Jara. Er wurde im Nationalstadion von Santiago gefoltert und bestialisch ermordet. Er war einer der führenden Köpfe des Neuen Chilenischen Liedes und eine Symbolfigur der Unidad Populär Er kam aus einer armen Landarbeiterfamilie und blieb dem Leben der einfachen Menschen und der Volkskultur verbunden. Sein Credo war- »Seit ich lebe, kenne ich in meinem Land Ungerechtigkeit, Not und soziales Elend. Ich glaube, darum ist in mir das Bedürfnis entstanden, Lieder zu singen für das Volk. Ich glaube fest daran, daß der Mensch im Laufe seines Lebens frei werden muß, daß er handeln soll für die Gerechtigkeit.« Victor Jara war Künstler und Kommunist. Seine Lieder wurden nicht nur von Anhängern der Unidad Populär geschätzt. Die Reaktion haßte ihn.

Nach 1973 war der Name Victor Jara jahrelang in Chile tabu. Das änderte sich erst mit der schrittweisen Rückkehr zur Demokratie. 1993 wurde eine Victor Jara Stiftung gegründet. Joan Jara, die Witwe

Victors, und die Inti-Illimani gehören zu den Gründern. Die Stiftung möchte das künstlerische und politische Vermächtnis Victor Jaras bewahren und hat dazu ein Archiv eingerichtet. Dem Andenken des Sängers war auch eine Veranstaltung am 11. September in der Dortmunder Westfalenhalle unter dem Titel »Deja la Vida volar / Laß das Leben fliegen« gewidmet. Mitwirkende waren Inti-Illimani, Oscar Andrade, Maria Farantouri, Petros Pandis, Hamed Baroudi und Hannes Wader. Joan Jara, die ebenfalls hatte teilnehmen wollen, sandte eine Grußbotschaft.

Die Inti-Illimani waren Freunde und Kampfgefährten von Victor Jara. Sie gehörten zu den Gründern der Bewegung des Neuen Chilenischen Liedes und haben während der Zeit ihres Exils viel für die internationale Solidaritätsbewegung getan. Seit 1988 sind sie wieder in Chile. Die Gruppe besteht jetzt zur einen Hälfte aus Mitgliedern der ursprünglichen Besetzung und zur anderen Hälfte aus Mitgliedern, die in Chile neu hinzugekommen sind. Sie ist ihrem Anliegen, die chilenische Volksmusik zu pflegen, treu geblieben und hat neue musikalische Erfahrungen verarbeitet. In der Instrumentation sind europäische Einflüsse unverkennbar Die Gruppe ist musikalisch besser denn je und wurde vom Dortmunder Publikum enthusiastisch gefeiert.

Ein chilenischer Musiker anderer Art ist Oscar Andrade. Die Tradition des Neu-

en Chilenischen Liedes ist bei ihm nur indirekt spürbar Er ist kein politischer Sänger, aber ein politischer Mensch und bekam in den 80er Jahren in Chile Schwierigkeiten mit der Zensur. Andrade verwendet verschiedenste musikalische Elemente, von Folklore und Chanson bis zu Jazz und Rock und läßt Gegensätze bewußt aufeinanderprallen. Seine Stücke sind präzise und sensibel gearbeitet. In Lateinamerika feiert er große Erfolge, und auch in der Westfalenhalle war die Resonanz auf seinen Auftritt beträchtlich. Auf die beim pläne-Verlag erschienene CD »Desde la Luz« setzte sofort ein großer Ansturm ein.

Maria Farantouri und Petros Pandis sangen in der Veranstaltung bekannte Lieder von Mikis Theodorakis sowie neuere Stücke und Jaras »Plegaria a un labrador«. Politische Parallelen und künstlerische Korrespondenzen zwischen Chile und Griechenland gibt es mancherlei, und die Vertonung von Pablo Nerudas »Canto general« durch Theodorakis ist ein markantes Symbol dafür. Theodorakis verwies in einer Grußbotschaft an die Veranstaltung darauf, daß er die Anregung zur Vertonung des »Canto general« 1971 bei einer Veranstaltung im Estadio de Chile erhalten habe, bei der er auch Victor Jara kennenlernte.

Daß fortschrittliche Künstler auch heute in vielen Ländern der Welt bedroht

sind, daran wurde während der Veranstaltung wiederholt erinnert. Tragisches Beispiel dafür ist die Ermordung des algerischen Sängers Lounes Matoub. Bei einem Besuch in Algerien wurde er von fanatischen islamischen Fundamentalisten bestialisch ermordet. Ein Sänger, der solchem Fanatismus die musikalische Botschaft der Hoffnung und der Toleranz entgegensetzt, ist der algerische Sänger Hamid Baroudi. Er war von den Veranstaltern kurzfristig zusätzlich eingeladen worden und sorgte für einen lebendigen und stimmungsvollen Auftakt des Abends.

Hannes Wader hatte im Vorfeld der Veranstaltung erklärt, daß für ihn die Teilnahme an diesem Konzert ein unbedingtes Muß sei, denn das Schicksal Victor Jaras berühre ihn tief. Und so konnte man denn auf seinen Auftritt besonders gespannt sein, war doch in den letzten Jahren verschiedentlich gemutmaßt und publiziert worden, er sei mittlerweile ein unpolitischer Mensch. Daß er sich von Irrtümern und Illusionen, aber nicht von Grundhaltungen und Idealen verabschiedet hat, war hier zu hören. In einem neuen Text über Victor Jara beschrieb er den Verlust von Hoffnungen. Es sei ja nicht wahr, daß das Gute immer siegt, weil es gut ist, hieß es im Refrain. Wader sang dann alte und neue Lieder, zum Beispiel das bekannte Lied der »Moorsoldaten« und aus den 80er Jahren sein Lied »Leben einzeln und frei« nach einem Gedicht von Nazim Hikmet, der 20 Jahre Haft und Folter in der Türkei hatte erdulden müssen wegen des »Verbrechens«, Dichter und Kommunist zu sein.

Veranstaltungen wie die Dortmunder sind heutzutage selten, und man merkte Wader eine gewisse Unsicherheit an.

Aber das Publikum folgte ihm, merkte es doch, daß hier einer, der das Prädikat »Volkssänger« zu Recht trägt, sich selbst treu geblieben ist. Die groß angekündigte »kleine Sensation«, daß das Duo Zupfgeigenhansel nach jahrelanger Trennung wieder zusammen auftreten würde, fand nicht statt. Thomas Fritz und Erich Schmeckenbecher hätten es »wohl doch nicht geschafft, ihre Zusammenarbeit für dieses Konzert zu erneuern«, wurde vieldeutig mitgeteilt.

Die Moderation hatten übrigens die Schriftstellerin und Journalistin Ulli Langenbrink und der Ex-Floh (de Cologne) Dieter Klemm übernommen. Sie erfüllten ihre Aufgabe sachkundig und gründlich, taten manchmal vielleicht des Guten zu viel. Mit über fünf Stunden Dauer wurde dem Publikum einiges an Durchstehvermögen abverlangt. Die 2000 Besucher im Saal 3 der Dortmunder Westfalenhalle bewiesen Kondition. Als die Intis nach Mitternacht ihren Auftritt hatten, erreichte die Stimmung ihren absoluten Höhepunkt. Das Bedürfnis nach solcherart musikalisch-künstlerischer Kost war wohl lange nicht gestillt worden. Mancher Besucher mag sfch auch an frühere Veranstaltungen in der Westfalenhalle, etwa das Festival der Jugend 1983, erinnert haben. Viele der Besucher hatten sich sicher einst in der Chile-Solidaritätsbewegung engagiert, und so war dieser Abend für sie mehr als ein normaler Konzertbesuch. Veranstalter war plane, eine Plattenfirma und keine Konzertagentur, aber auf jeden Fall eine gute Adresse für ehrliche, zeitbezogene, sozial verbindliche Musik. Die Veranstaltung befand sich hier in guten Händen. Eine würdige Ehrung Victor Jaras.

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