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  • Politik
  • Ulrich Mühe spricht Heiner Müller im Berliner Ensemble

Heimat der Sklaven

  • Gerhard Ebert
  • Lesedauer: 3 Min.

Volles Haus. Ein überwiegend junges Publikum füllt Ränge und Parkett. Der Schauspieler Ulrich Mühe, vor neun Jahren gefeierter Star am Deutschen Theater Berlin (u.a. als Hamlet in Heiner Müllers unvergeßlicher Inszenierung), kam von den Hamburger Kammerspielen ins Berliner Ensemble, um unter dem Titel »Einen Dichter denken laut« Texte Heiner Müllers zu sprechen.

Und in der Tat, dieser hypersensible Schauspieler vermag den Dichter »laut« zu denken. Nicht, indem er brüllt, um diese oder jene Szene möglichst effektvoll an den Mann zu bringen, sondern, indem er so behutsam wie bedächtig einführt in Müllers bizzare, zerklüftete, hier brüchige, dort ehern in sich feste poetische Bilderwelt. Was an Mühes schlanker, intelligenter Vortragskunst so besonders fasziniert: Er legt nirgends eine sprecherische Manier oder einen willkürlichen Stil über die Texte und damit über deren Inhalte. Vielmehr überläßt er sich empfindsam jedem Gedanken, bezieht von dort Haltung und Gefühl, Intensität und Rhythmus, und produziert, jedes Wort wertend, eine unmittelbare, eindringliche Sprache.

Zum Auftakt ist die Bühne leer und düster. Eine Elektro-Gitarre (Erich Gramshammer) dröhnt los. Auf einer Projektion an der Rampe erscheint ein Protest von Viviane Forrester gegen Arbeitslosigkeit. Hinterbühne. Ulrich Mühe steht, von einem Scheinwerfer angestrahlt, auf

einem Stuhl und spricht Müllers »PromStheus«, „akzentuiert ruhig und »blf immi^ejsgn^ Aufbegehren gegen ^die Götter Wieder scfireit die Gitarre. Nun kommt der Schauspieler langsam nach vorn, zieht seine Jacke nachdenklich enger und spricht Passagen aus »Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten«. Andächtige Spannung im Auditorium. Wenn der Sprecher pausiert, wühlt die Gitarre. Dann zwingt der Schauspieler, gestisch verhalten, zu neuer Konzentration.

Wenn Mühe aus dem Stück »Der Auftrag Erinnerung an eine Revolution« den Mann im Fahrstuhl spricht, liest er ab, ändert er den Rhythmus, wird er hastig. Zeitnot im Fahrstuhl. Ihn treiben Sorge und Befürchtungen auf dem Weg zum Chef. Emotionen mischen sich in bis dahin streng gehütete Sachlichkeit.

Sodann Passagen aus den Stücken »Hamletmaschine« und »Zement«; und noch einmal, ausführlicher, der »Auftrag«. Mühe stellt den Text nicht distanziert vor, er identifiziert sich. Klage und Protest jetzt, Appell und Empörung. Und Ohnmacht. Vor allem Ohnmacht. Die Poesie war immer schon die Sprache der Vergeblichkeit! Und: Die Revolution hat keine Heimat mehr! Doch: Die Heimat der Sklaven ist der Aufstand!

Unaufdringlich macht Ulrich Mühe bewußt, wie elementar Heiner Müller mit seiner Epoche litt, und provoziert die Frage: Welch deutscher Dramatiker der Gegenwart ist auch nur annähernd so nonkonformistisch? Dank an den Schauspieler. Stürmischer Beifall.

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