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  • Politik
  • »Die Bakchen« im Berliner Männertheater

Lebenslust kontra Staatsräson

  • Volker Trauth
  • Lesedauer: 3 Min.

Nach den Berührungspunkten mit dem Lebensgefühl im Berlin der Jahrtausendwende sucht das 1996 gegründete »Berliner Männerensemble« in seinen Inszenierungen. So rückte Euripides' »Die Bakchen« ins Blickfeld, jenes Stück, in dem zwei sittliche und gesellschaftliche Grundprinzipien brutal aufeinanderprallen: das vom Staatsmann Pentheus verfochtene Prinzip unbedingter staatlicher Ordnung und das vom Gott des Weines und der Fruchtbarkeit Dionysos in die Stadt Theben getragene Gebot des hemmungslos-rauschhaften Lebensgenusses.

Zu einer Konfrontation zwischen Staatsdisziplin und lustvoller Weltaneignung wird es nach Ansicht des Regisseurs Jan Oberndorff in den nächsten Jahren auch in Berlin kommen - auf der einen Seite steht für ihn die Love-Parade, auf der anderen stehen Regierungsumzug und erhöhte Polizeipräsenz.

Folgerichtig rückt in seiner im Theater »Zerbrochene Fenster« herausgekommenen Inszenierung die Verwandlung der thebanischen Frauen in trunkene, wollüstige Bakchantinnen ins Zentrum, eine verhängnisvolle Verwandlung, die alle Ordnung in Theben auseinanderbrechen, die Stadt verwüsten und Pentheus' Mutter Agaue zur Mörderin am eigenen Sohn machen wird.

Auf leerer Bühne erscheint eingangs Dionysos (Mathias Noack). Unter seiner zunächst sachlich beherrschten Rede scheint Trauer über Tod und Verhöhnung seiner Mutter Semele durch. Trauer schlägt um in die wütende Kampfansage an den neuen Herrscher Pentheus. Dann schon erscheinen die Frauen - wie nicht anders zu erwarten war, gespielt von Männern in angedeutet stilisiertem weiblichem Outfit.

Es ist, als ob allein die Ankunft des Dionysos sie gleichsam elektrisiert ,hat. Eine tritt in die Mitte und wirbt darum, den »lärmenden Gott« (Dionysos) zum Anführer zu machen, auf daß der den »Durst auf das Blut des Bocks stillt«. Der Angesprochene springt auf ein bockähnliches Turngerät - neben den Sprossenleitern zu beiden Stirnseiten des Raums das einzige Bühnenbildelement - und entzündet das Feuer der Rachsucht.

Ein wahrer Hexensabbat hebt an. Es zischelt wie auflodernde Feuersbrunst, es blökt, bellt, zirpt und stöhnt im Rund, und unter dem peitschenden Rhythmus unsichtbarer metallener Instrumente formiert sich ein Zug, der alles niederwalzen wird. Stille Stakkatotöne gehen über in ein monoton-überflutendes Geräusch, das dem endlosen Drehen eines schleifenden Rotors gleicht. Hier erweist sich die gewachsene Fähigkeit des Ensembles, aus dem Zusammenspiel von Farben, Tönen, Klängen und durchchoreographierten Bewegungen einen von Sprache allein

nicht mehr zu erfassenden Vorgang ins Bild zu zwingen.

Der Mobilisierung der Theatermittel steht eine durchdachte, über weite Strekken auch differenzierte Schauspielerarbeit gegenüber - kein Wunder, haben doch fast alle barsteiler Berufserfahrungen an Stadt- und Staatstheatern. Wie beispielsweise Benjamin Kiss als Pentheus ganz unaufwendig, ganz im selbstverständlichen Bewußtsein der Macht seine Befehle zur Ergreifung und Bestrafung des Eindringlings gibt, wie ihn die Wut über dessen unerklärliche Flucht übermannt und wie er schließlich dem Zauber des Dionysos erliegt und sich dem demütig unterwirft - das zeugt von Handwerk und detailgenauer Probenarbeit.

Das gilt ebenso für die Botenberichte von Andreas Stadtler und Sigurd Bemme oder die Art und Weise, wie Tim Herbert, Agaues allmähliches Begreifen tragischer Schuld kennzeichnet.

Inszenatorisch baut Oberndorff auf den durchkalkulierten Wechsel von laut und leise, von jähem, hemmungslosem Ausbruch und nachdenklichem Begreifen. Gegen den Sog des Geschehens, das mit fataler Zwangsläufigkeit zum katastrophalen Ende hintreibt, setzt die Regie überraschende Ruhepunkte, wenn abwechselnd eine von den Frauen aus dem Chor heraustritt und sich und dem Publikum Fragen über die eigene Rolle im rasenden Getriebe der Zeit stellt. In diesen Augenblicken hat die Aufführung ihre stärksten Momente.

Hier hat ein Ensemble durch Qualität aus einer selbst nie gewollten Außenseiternische herausgefunden. Weil im Spiel des Chores das Erlebnis individueller Entgrenzung eine über die Geschlechterspezifik hinausgehende menschheitliche Dimension gewinnt, erscheint auch die ungewöhnliche Besetzung nicht mehr als profilsüchtige Neuerung um jeden Preis.

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